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Forderungskatalog zum Gutachten „Qualität 2030“

20.11.2014 14:00
Einen neuen Ordnungsrahmen für das Gesundheitssystem, in dessen Mittelpunkt Qualität und Patientensicherheit stehen, mahnt Ulf Fink, Vorsitzender von Gesundheitsstadt Berlin e.V., mit 220 Mitgliedern das größte regionale Gesundheitsnetzwerk in Deutschland, an. Um der Politik für dieses hehre Ziel eine Hilfestellung zu geben, beauftragte der Verein Gesundheitsstadt Berlin den Kölner Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, ein Gutachten zu erstellen, das unter dem Titel „Qualität 2030“ eine umfassende Strategie für das Gesundheitswesen entwirft, zu den zentralen Instrumenten der Qualitätsverbesserung Stellung nimmt und einen umfassenden Paradigmenwechsel im deutschen Gesundheitswesen einfordert.

>> „Qualitätsdefizite können im gegenwärtigen Umfang nicht länger toleriert werden“, erklärt Schrappe, der über ein Jahr an dem 300-seitigen Gutachten gearbeitet hat, das von der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft (MWV) aufgelegt worden ist. Obwohl er in seinem Gutachten durchaus davon ausgeht, dass das deutsche Gesundheitswesen seine Aufgaben gut, in einigen Bereichen sogar hervorragend erfüllt, moniert er, dass dennoch gleichzeitig gravierende Qualitätsmängel nicht zu übersehen sind. Dabei seien wichtigsten Qualitätsdefizite solche, die die Patientensicherheit betreffen.
So zeigen die Zahlen des jährlich erscheinenden Qualitätsberichtes der externen Qualitätssicherung nach §137 SGB V Komplikationen bei mehreren Prozent der Patienten. „Auch nach einschlägigen internationalen Studien kommt auf 2 bis 4 Prozent der Krankenhaus-Patienten ein vermeidbares, auf Fehler zurückzuführendes unerwünschtes Ereignis zu, das durch die Behandlung bedingt ist,“ führt Schrappe aus. Das bedeute für Deutschland, dass jedes Jahr zwischen 380.000 und 760.000 Krankenhauspatienten von Schäden betroffen seien, die auf Fehler zurückgingen. Schrappe. „Man muss demnach mit rund 19.000 vermeidbaren Todesfällen pro Jahr rechnen, wohlgemerkt vermeidbaren.“ Zwar tauchen laut Schrappe in den offiziellen Berichten z.B. der Schlichtungsstellen der Landesärztekammern nur einige 1.000 Behandlungsfehler pro Jahr auf, doch sei dies darauf zurückzuführen, dass nur wenige Prozent der Patienten die unerwünschten Ereignisse gerichtlich oder durch Schiedsstellen klären lassen würden.
Als die beiden wichtigsten Gruppen von unerwünschten Ereignissen zählt das Gutachten die nosokomialen (im Krankenhaus erworbenen) Infektionen und die Arzneimittel-bedingten Ereignisse auf - jährlich zwischen 400.000 und 600.000! Schrappe: „Rund ein Drittel davon ist als vermeidbar einzustufen: folglich erleiden ca. 1% aller Krankenhaus-Patienten -also zwischen 100.000 und 200.000 pro Jahr - in Deutschland eine vermeidbare nosokomiale Infektion.“ Auch sei die Zahl der vermeidbaren Todesfälle durch Krankenhausinfektionen, nämlich 2500 bis 5000 Todesfälle pro Jahr, gut belegt.
Und die unerwünschten Ereignisse im Arzneimittelbereich liegen mindestens in der gleichen Größenordnung. Deutsche und internationale Untersuchungen wiesen laut Schrappe darauf hin, dass in Deutschland jährlich zwischen 380.000 und 950.000 Krankenhaus-Aufnahmen wegen Arzneimittel-„Nebenwirkungen“ notwendig werden. „Besonders ältere Patienten, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, sind einem hohen Risiko ausgesetzt“, erklärt Schrappe. Zwar gebe es eine Liste von Medikamenten (sog. Priscus-Liste), die bei Älteren nicht eingesetzt werden sollen, trotzdem erhielten rund 20 Prozent der älteren Patienten in Deutschland mindestens ein Medikament, das nach dieser Liste nicht empfohlen wird.
Als weitere Beispiele nennt das Gutachten, das 29,5 Prozent der operierten und 36,8 Prozent der konservativ behandelten Krankenhauspatienten starke oder sehr starke Ruheschmerzen angeben würden, indes würden 15 bzw. 39 Prozent der Patienten trotz Schmerzen keine Schmerztherapie erhalten.
Vor dem Hintergrund dieser und vieler weiterer im Gutachten genannten Qualitätsdefizite im deutschen Gesundheitssystem sieht Schrappe im Rahmen der Strategie „Qualität 2030“ folgende Handlungsfelder von zentraler Bedeutung:
(A) Strategische Neuausrichtung der Qualitätssicherung am zukünftigen Morbiditätsspektrum (chronische Mehrfacherkrankungen und Prävention)
(B) Überwindung der (zunehmenden) Sektorierung mit ihrer sektoralen Qualitätsperspektive - eine regionale und Populations-bezogene Qualitätssicherung ist das Gebot der Stunde.
(C) Qualität der Leistungserbringung: Nutzen und Patient Reported Outcomes gehören zusammen.
(D) Qualitäts-orientierte Versorgungsplanung, Erweiterung der Qualitätsberichterstattung und P4P müssen Ziel-orientiert erfolgen, kein „Weiter So“ mit den rein prozedural-akutmedizinisch orientierten Daten nach §137/137a.
(E) Prozessindikatoren müssen in den Vordergrund rücken, die den Koordinations- und Kooperationsproblemen in Therapie und Begleitung der chronischen Erkankungen ensprechen - die ausschließliche Fokussierung auf Ergebnisindikatoren fördert die „alte“ prozedurale, akutemdizinische und Anbieter-bezogene Sichtweise, ganz abgesehen von den Problemen der Risikoadjustierung und Benachteiligung kleinerer Einrichtungen.
(F) Routinedaten sind wegen ihrer niedrigen Sensitvität mit Vorsicht anzuwenden, vielmehr müssen klinisch-epidemiologische Falldefinitionen wie weltweit in der Krankenhaushygiene den Vorzug erhalten.

Als wichtigste Schlussfolgerung erklärt Schrappe, dass Qualität viel mehr als heute  bei der Gesundheitsversorgung in den Mittelpunkt gestellt werden muss. „Die Gesundheitspolitik muss die Richtung vorgegeben, strategische Ziele setzen und potentielle negative Auswirkungen kontrollieren“, fordert Gutachter Schrappe. Hierzu gehörten:
(1) Der Gesetzgeber soll ein Rahmenkonzept „Qualität 2030“ vorlegen, welches umfassend die bis 2030 umzusetzenden Qualitätsinstrumente beschreibt – unter Berücksichtigung des demografischen Wandels,der Notwendigkeit der Stärkung der Prävention, des Aufbaus regionaler, qualitätsgesicherter Versorgungskonzepte sowie der Zentrenbildung und Durchsetzung von Mindestmengen.
(2) Der Gesetzgeber veröffentlicht einmal jährlich ein Gutachten zum Stand der Umsetzung der Strategie „Qualität 2030“ unter Einschluss eines Qualitäts-Monitorings zentraler Aspekte zur Beurteilung der Qualität, insbesondere von Daten zur vermeidbaren Sterblichkeit durch nosokomiale Infektionen und Antibiotika-Resistenzentwicklung.
(3) Das Bundesgesundheitsministerium beruft einen „Beirat Qualität 2030“ (Beirat Qualität und Patientensicherheit) ein, in dem insbesondere zivilgesellschaftliche Initiativen (Unternehmen, Kirchen, Verbände außerhalb des Gesundheitswesens) mitwirken. <<

 

Ergänzender Hinweis:

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe von MVF (06/14) ein ausführliches Interview zum Thema Qualität mit Prof. Schrappe

Buchhinweis:

Das Gutachten erscheint als Buch in der MWV: "Qualität 2030 - Die umfassende Strategie für das Gesundheitswesen", Geleitwort von Fink und Dormann, 400 Seiten, ISBN: 978-3-95466-140-49, Preis: 64,95 Euro