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„Das ist die soziale Frage der 20er-Jahre“

12.10.2020 11:23
„Es geht darum, da anzupacken, wo im Gesundheitswesen Aufholbedarf sichtbar geworden ist“, erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 1. Oktober im Bundestag, als er den Etat seines Ministeriums für das kommende Jahr vorstellte. Neben der Schaffung von zusätzlichen Stellen in der Pflege thematisierte er in Sachen Finanzierung auch die Reform der Pflegeversicherung, bei der es darum gehe, eine gut austarierte Balance zwischen der Verantwortung des Einzelnen und der Familie mit der Verantwortung der Gesellschaft „und uns als Solidargemeinschaft“ zu finden.

>> „Wir haben in der Pflege zusätzliche Stellen geschaffen, in der Krankenpflege wie in der Altenpflege, und auch was die Pflegefachkraftstellen angeht, und zwar etwa 13.000“, so Spahn. Ja, er wisse, es seien noch nicht alle besetzt. Aber der qualitative Unterschied sei: „Das Geld dafür ist da.“ Nun könnten diese nach und nach besetzt werden, wie die 20.000 Stellen für Pflegeassistenzkräfte in den Pflegeeinrichtungen. Man werde die Gesundheitsberufe in den nächsten Monaten weiterentwickeln – den Pflegeberuf in den Inhalten und die Approbationsordnung für die Ärztinnen und Ärzte, „weil wir in dieser Pandemie sehen: Gutausgebildete Menschen, Fachkräfte im Gesundheitswesen sind genau das, was uns in dieser Krise stark macht.“

In Kürze werde er darüber hinaus die Eckpunkte für eine Pflegereform vorstellen, die folgende Fragen adressiere: „Wie können wir 25 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung eine neue, eine richtige Balance für die 20er-Jahre, auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre, finden zwischen der Verantwortung, auch der finanziellen Verantwortung, des Einzelnen und der Familien und der Gesellschaft als Solidargemeinschaft und wie wir damit die Pflege, auch aufgrund der Erfahrungen aus den letzten Monaten, fitmachen für die 20er-Jahre.“ Ausgaben in den Bereichen Gesundheitswesen und Pflege sollten nicht nur als Kosten angesehen werden, sondern als Investitionen in die Zukunft.

Im Interview mit der „Bild“-Zeitung gab Spahn am 3. Oktober einen ersten Blick auf die Eckpunkte für die Pflegereform frei. Darin erklärt er, dass seit 2017 der monatliche Eigenanteil für die stationäre Pflege um durchschnittlich 238 Euro gestiegen sei. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen brauchten aber Planungssicherheit. „Das schaffen wir, indem wir den Eigenanteil begrenzen. Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen. Das wären maximal 25.200 Euro“, erläuterte der Minister. Zwar bleibe die Pflegeversicherung auch dann eine Teilkaskoversicherung, aber der Eigenanteil werde berechenbar. Auf einen Maximalbetrag könne sich jeder vorbereiten und das zum Beispiel über eine private Pflegevorsorge absichern. „Die will ich zusätzlich ausbauen und so das Sparen fördern“, gab Spahn einen Ausblick. Der Deckel beim Pflegeanteil schütze vor allem diejenigen, die sich mit geringen und mittleren Gehältern ein wenig Wohlstand für ihre Familie aufgebaut hätten. Der solle nicht durch immer weiter steigende Pflegekosten ganz aufgezehrt werden.

Auf die Frage nach den immer noch niedrigen Löhnen für Pflegekräfte, stimmte Spahn zu. 2018 hätten nur 40 Prozent der Pflegeheime ihre Angestellten nach Tarif bezahlt, bei den ambulanten Pflegediensten seien es nur 26 Prozent gewesen. Auch Urlaubsansprüche und Sonderzahlungen seien deutlich geringer ausgefallen als angemessen. Das müsse sich ändern: In der Pflege sollte mindestens nach Tarif bezahlt werden. Spahns Plan: „Um mit der Pflegeversicherung Leistungen abrechnen zu können, muss ein Pflegeheim oder ein Pflegedienst die Mitarbeiter in Zukunft nach Tarif bezahlen. Grundlage kann ein Haus- oder ein Branchentarifvertrag sein. Er muss von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern ausgehandelt sein. Für hunderttausende Pflegekräfte wird das zu deutlich mehr Gehalt führen. Aufgrund des Fachkräftemangels sitzen die Pflegekräfte bei den Tarifverhandlungen am längeren Hebel.“

Auch die pflegenden Angehörigen werden thematisiert: Die Verhinderungspflege sei ausgebaut worden, mit der Kurzzeitpflege könnten Urlaub oder Erholung überbrückt werden. Das System sei jedoch kompliziert und die einzelnen Leistungen vor Ort nicht immer abrufbar, weil das entsprechende Angebot fehle. „Deshalb will ich als dritten Baustein der Pflegereform die Leistungen für pflegende Angehörige stärker bündeln“, erläutert Spahn seine Absichten. Dann könnten Angehörige Hilfe flexibler in Anspruch nehmen. Für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege wolle er ein Jahresbudget in Höhe von 3.330 Euro einführen. Das soll jeder nach Bedarf einsetzen können. „Dafür muss es natürlich auch ausreichend Angebote geben. Das werden wir fördern.“ Auch das Pflegegeld und die Pflegesachleistungen sollen jedes Jahr automatisch steigen.

Doch wer soll das bezahlen? „Diese Pflegereform kostet rund 6 Milliarden Euro pro Jahr. Ganz grob kann man sagen: Die Deckelung der Eigenanteile macht rund 3 Milliarden Euro aus, die bessere Bezahlung der Pflegekräfte rund 2 Milliarden, die Leistungen für die Pflege zuhause etwa eine Milliarde.“ Da man als Regierung das Versprechen halten wolle, die Lohnnebenkosten nicht über 40 Prozent steigen zu lassen, kämen Beitragserhöhungen nicht in Frage. Deshalb solle das aus Steuermitteln finanziert werden.

„Eines haben wir doch in dieser Pandemie gelernt: Eine gute Gesundheitsversorgung und eine gute Pflege geben Halt und Sicherheit. Jeder in die Pflege investierte Euro ist eine Investition in die Mitmenschlichkeit unserer alternden Gesellschaft. Und es ist ein Wirtschaftsfaktor: 5,5 Millionen Menschen arbeiten in der Pflege und im Gesundheitswesen, deutlich mehr als ein Zehntel unseres Bruttosozialprodukts werden hier erwirtschaftet. Niemand sollte sich zudem während seiner Arbeit Sorgen machen müssen, dass seine Eltern oder Großeltern nicht gut versorgt sind. Davon profitieren auch die Arbeitgeber. Pflege ist die soziale Frage der 20er-Jahre“, ist sich Spahn sicher. <<

Ausgabe 03 / 2020