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„Ein sehr eingeengtes Verständnis von Fachlichkeit“

03.08.2020 12:10
SARS-CoV-2 hat der Pflege eine für sie unbekannte prominente Position im gesellschaftlichen Bewusstsein verschafft. Auch wenn sich die pandemische Lage in Deutschland derzeit beruhigt hat, zeigt zum Beispiel die öffentliche Teilnahme am Diskurs über die beschlossenen „Bonuszahlungen“, dass die Pflege gesamtgesellschaftliche Relevanz hat. Doch kann dieser Aufwind genutzt werden, um der Pflege in Politik, Wissenschaft und Forschung eine stärkere Position und nachhaltigen Auftrieb zu geben? Dr. Martina Hasseler, Professorin für Klinische Pflege, Ostfalia Hochschule, Campus Wolfsburg, u.a. auch Stellvertretendes Mitglied der Ethikkommission der Pflegekammer Niedersachsen, erklärt, welcher strukturellen Veränderungen es ihrer Meinung nach dazu bedarf.

>> Frau Prof. Hasseler, die aktuelle pandemische Situation rückt die Berufsgruppe der professionell Pflegenden in den Fokus der Öffentlichkeit und stellt auch für die politischen Entscheider eine große Herausforderung dar. Während wir gerade die Öffnung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erfahren, gibt es Forderungen, präventive Isolationsmaßnahmen für Hochrisikogruppen auszudehnen. Ist das für Sie ein gangbarer Weg oder wie sollte man Ihrer Meinung nach mit dieser Bevölkerungsgruppe umgehen?
Zu den Hochrisikogruppen gehören auch die pflegebedürftigen Menschen in Pflegeheimen. Die Frage der Versorgung der hochaltrigen und pflegebedürftigen Menschen beschäftigt mich sehr. Die plötzlichen Maßnahmen, die wegen Covid-19 die Menschen in Pflegeheimen ereilten, führten zu einer plötzlichen sozialen Isolation. Ich habe anekdotisch gehört, wie ältere pflegebedürftige Menschen in ihren Zimmern eingesperrt wurden bzw. ihre Zimmer nicht mehr verlassen durften, die Zimmer nur betreten wurden, wenn das Essen gebracht wurde u.w.m. Wir alle wissen, wie wichtig soziale Kontakte auch für Menschen in Pflegeheimen sind. Des Weiteren sind Angehörige, Besucherinnen und Besucher wegen des Personalmangels in Pflegeheimen und auch in Krankenhäusern wichtige Elemente, um die pflegerische Versorgung aufrecht erhalten zu können.

Was bedeutet das konkret für die Isolationsmaßnahmen?
Die präventiven Isolationsmaßnahmen „nur“ auf Hochrisikogruppen auszudehnen, verspricht zunächst eine einfache Lösung. Gleichwohl ist sie nicht so einfach durchzuführen. Zunächst gilt es, die Hochrisikogruppen zu definieren. Gehören dann auch alle chronisch Erkrankten, adipösen Menschen, Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebserkrankungen dazu? Wie verhält es sich mit Menschen mit Erkrankungen der Atemwege, mit Asthma? Gehören Menschen ab 50 Jahren, 60 Jahren oder 70 Jahren dazu? Dann müssten wir die Hälfte des Bundestages oder der Bundesregierung und viele Chef*innenetagen in Quarantäne schicken.

Die Erfahrungen zeigen nun auch, dass Kinder möglicherweise Kawasaki-syndrom-artige Erkrankungen entwickeln. Es scheint niemand sicher zu sein vor dem Virus. Es werden Fälle von zuvor augenscheinlich gesunden und jüngeren Menschen berichtet, deren Gesundheitszustand sich plötzlich veränderte und sich lebensbedrohlich mit der Infektion entwickelte. Es wird auch Menschen in der Hochrisikogruppe geben, die arbeiten gehen müssen. Zur Problematik, die Hochrisikogruppen zu definieren, gehört ja auch die Problematik, dass diese Menschen zumeist nicht alleine leben. Familienmitglieder können Infektionsüberträger sein.

Und das heißt?
Das heißt, die Hochrisikogruppe gestaltet sich durchaus heterogen, so dass die Eingrenzung aufgrund der Unberechenbarkeit des Virus nicht so einfach ist.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie diese Menschen auf Dauer unter Einhaltung der Menschenwürde und ihrer Rechte leben können. Meine Fragen sind: Können wir dauerhaft sogenannten Hochrisikogruppen ihrer sozialen Kontakte, ihrer Autonomie und Teilhabe berauben? Oder müssen wir uns nicht andere Möglichkeiten überlegen, allen Menschen ein gesellschaftliches, soziales und würdevolles Leben zu ermöglichen? Dazu gehört meines Erachtens, in Kontexten gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung darauf zu achten, dass zunächst das Personal im Gesundheitswesen regelmäßig getestet und mit ausreichend Schutzmaterialien ausgestattet wird, um Patienten*innen, Pflegebedürftige und sich zu schützen.

Das Pflegepersonal ist ein neuralgischer Punkt. Welchen Anforderungen muss dieses entsprechen?
Das Pflegepersonal sollte angemessen qualifiziert und ausgestattet sein, um Hygieneregeln einhalten und Änderungen des Gesundheitszustandes einschätzen und sofort reagieren zu können. Auf jeden Fall benötigen wir eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitssystems, um die pflegerische Versorgung gewährleisten zu können. Dazu gehören telemedizinische und telepflegerische Konzepte, Qualifizierung der Berufsgruppen in der Anwendung und Umsetzung neuer Technologien u.w.m.

Nicht zuletzt müssen wir vermutlich darüber nachdenken, wie wir unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben unter Einhaltung von „Social Distancing“ und Hygieneregeln aufrechterhalten können. Vermutlich bedarf es ganz neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Konzepte, die wir noch nicht mal angedacht haben.

Welche Risiken sehen Sie?
Ich warne ganz deutlich davor, die Diskussionen über Isolationsmaßnahmen von Hochrisikogruppen – wie auch immer sie definiert sind – voranzutreiben, ohne die Versorgungsprozesse im Gesundheitswesen vor Augen zu haben und zu riskieren, dass diese Hochrisikogruppen auf Dauer ihrer Grundrechte und ihrem Bedürfnis nach sozialen und gesellschaftlichen Kontakten beraubt werden.

Wie könnte hier ein möglicher Lösungsansatz aussehen?
Da uns das Virus erhalten bleiben wird, benötigen wir interdisziplinär zusammengesetzte Gremien, die auch die pflegerischen Berufsgruppen wie auch Pflegewissenschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger integrieren, um Lösungen zu erarbeiten. Aus meiner Perspektive sind partizipative Ansätze für die Erarbeitung von Ideen erforderlich, um die Frage beantworten zu können, wie wir mit dem Virus und dem Erfordernis, Menschen zu schützen und unser wirtschaftliches und soziales Leben aufrecht erhalten zu können, umgehen können. Bisherige Ansätze scheitern daran, dass sie zu wenig umfassend die Perspektiven aller Beteiligten integrieren und somit viele Perspektiven nicht einbezogen werden. So einseitig und kurzsichtig entwickelte Ansätze werden dann zum Scheitern verurteilt sein und auf Dauer auf wenig Akzeptanz stoßen.

Am 14. und 15. Mai haben Bundestag und Bundesrat das „Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ beschlossen. Demnach sollen professionelle Altenpflegekräfte einen Bonus erhalten und pflegende Angehörige besser unterstützt werden. Können Sie die Beschränkung auf diese Klientel nachvollziehen? Sollte nachgebessert werden?
Diese Bonuszahlung, die ja auch nur nach wochenlangen Diskussionen unter schwierigsten Aushandlungsprozessen beschlossen wurden, reichen natürlich nicht aus. Es ist höchst problematisch, dass die Pflegefachpersonen, die auch in Krankenhäusern oder anderen Settings und Sektoren arbeiten, nicht berücksichtigt werden. Dieser Ansatz entspricht aber der dominierenden Perspektive in Deutschland, Pflegeberufe mit einem Sozialgesetzbuch, nämlich dem SGB XI gleichzusetzen. Das ist ein großes Problem in Deutschland, da mittlerweile die pflegerischen Berufsgruppen mit einem Teilleistungsrecht gleichgesetzt werden. In politiknahen Bereichen, aber auch in den Medien hört man häufig, die Aussage: „in der Pflege“. In den meisten Fällen wird das SGB XI adressiert.

Deswegen möchte ich alle Verantwortlichen darum bitten, wenn sie SGB XI oder Pflegeversicherung meinen, diese Begrifflichkeiten auch konkret so zu benennen. Ebenso verhält es sich mit der Aussage „Es wurden Verhandlungen mit der Pflegeselbstverwaltung“ geführt. Gemeint ist in solchen Fällen, dass Verhandlungen mit den Pflegekassen und Arbeitgeberverbänden, aber nicht mit den Pflegeberufen geführt wurden, da sie überwiegend noch nicht als Körperschaften des öffentlichen Rechts, also in Kammern, und noch nicht mit den entsprechenden Befugnissen ausgestattet sind.

Um noch einmal auf die Bonuszahlungen zurückzukommen ...
Es sollte nicht nur nachgebessert und Pflegefachpersonen in allen Sektoren und Settings mit Bonuszahlungen berücksichtigt werden, sondern insgesamt sollten die Verbesserung der Arbeits- und Rahmenbedingungen und Entlohnung der Pflegeberufe wieder in den Fokus der Auseinandersetzungen rücken. Für die Altenpflege habe ich aktuell gelesen, dass eine Altenpfleger*in 53 Jahre in Vollzeit bei Mindestlohn arbeiten müsste, um eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Es gibt gute Gründe, warum sich Schülerinnen und Schüler einer Befragung zu Folge, nur zu einem geringen Prozentsatz vorstellen können, überhaupt in die Pflegeberufe zu gehen. Durch Covid-19 ist der Pflegenotstand, der Pflegefachpersonenmangel in den Hintergrund gerückt.

Aber diese Pandemie ist auf einen seit mehr als 20 Jahre entwickelnden Pflegefachpersonenmangel in Deutschland getroffen. Wenn es eine Zeit nach Covid-19 geben sollte, möchte ich warnend formulieren: Covid-19 verschlimmert und wird die Situation der Pflegeberufe und des Pflegenotstandes verschlimmern. Die Aussetzung der Personaluntergrenzen, die Erhöhung der Arbeitszeiten auf 12 Stunden Schichten bei schlechter personeller Ausstattung, die wirklich schlechte Ausstattung mit persönlichen Schutzmaterialien sowie die geringe Neigung, Pflegepersonal auf das Virus zu testen und sie häufig mit ihren Ängsten und Nöten alleine zu lassen, hat den Beruf nicht attraktiver gemacht und ganz sicher das moralische Stressempfinden und die Demoralisierung der Pflegeberufsangehörigen erhöht.

Da ist die Bonuszahlung doch ein gutes Zeichen, oder nicht?
In der momentanen Diskussion wird meist davon ausgegangen, dass es ausreichend ist, den Pflegefachpersonen einen Einmalbonus zu bezahlen. Jedoch geht das Risiko aus dem Beruf auszusteigen, bzw. gar nicht erst einzusteigen auch mit vielen anderen Faktoren einher. So wünschen die Menschen flexiblere Arbeitszeitmodelle und nicht nur das Arbeiten nach Früh-, Spät- und Nachtschicht, also in den veralteten Arbeitszeitmodellen. Sie wünschen sich Vertrauen am Arbeitsplatz, weil dieses die intrinsische Motivation fördert. Die vorherrschenden hierarchischen Strukturen im Gesundheitswesen fördern jedoch nicht Vertrauen, sondern führen zu noch mehr Kontrolle.

Weiterhin möchten die Pflegefachpersonen mehr Zeit für die Versorgung von Pflegebedürftigen haben. Aufgrund der DRG-orientierten Versorgung der Menschen werden pflegefachliche Aufgaben rationiert, da der sogenannte „Nursing-Work- load“ zu hoch ist. Wir haben in Deutschland im OECD-Vergleich sehr niedrige Pflegepersonal-Patientenschlüssel in den Krankenhäusern, bei gleichzeitig höheren Fall- und Patientenentlassungszahlen je Pflegefachperson. In diesem Kontext bleibt den Pflegefachpersonen nur, relevante pflegefachliche Arbeiten zu rationieren. Studien zeigen, dass das moralische Stressempfinden sich dabei erhöht und als Resultat höhere AU, höhere Krankheitstage oder der Ausstieg auf dem Pflegeberuf – Pflexit – zu verzeichnen sind.

Muss die Fachlichkeit der Profession auch auf den Prüfstand?
Wir haben im Vergleich mit anderen europäischen Ländern und auch im weltweiten Vergleich ein sehr eingeengtes Verständnis von der Fachlichkeit der Pflegeberufe. Wir leisten uns eine 3-jährige Ausbildung mit Staatsexamen, lassen aber Pflegefachpersonen häufig in hauswirtschaftsnahen Arbeiten und Hilfstätigkeiten arbeiten, so dass die Pflegeberufe nicht attraktiv erscheinen. Neben Bonuszahlungen und grundsätzlich höheren Löhnen und besseren Arbeits- und Rahmenbedingungen, ist es hochdringend erforderlich, die Fachlichkeit und den Mehrwert professioneller Pflege in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.

Wie geht man hier am besten vor?
Wir benötigen: Diskussionen und Ergebnisse zur Verbesserungen der Arbeits- und Rahmenbedingungen der Pflegeberufe, differenzierte horizontale und vertikale Karrierewege in den Pflegeberufen, Anerkennung des Mehrwertes qualifizierter Pflege, höhere Entlohnung aller Pflegeberufe in allen Sektoren und Settings, betriebliche Gesundheitsförderung, Empowerment der Pflegeberufe durch diverse Ansätze u.w.m. Wir sollten endlich in Deutschland zur Kenntnis nehmen, dass Pflegefachpersonen auch in Krankenhäusern, Rehabilitationskliniken arbeiten, über hohe präventive Potenziale verfügen, ihre Kompetenzen über das Pflegeberufegesetz und nicht über das SGB XI abgebildet werden. Des Weiteren sollten wir uns auch zu der Erkenntnis durchringen, dass wir in fast allen Sektoren und Settings von qualitativ hochwertiger Pflege abhängig sind. Ohne Pflegeberufe wird es keine Versorgung in Krankenhäusern oder in anderen Settings geben. Sich dieser Erkenntnis zu öffnen und dann zu fragen, unter welchen Bedingungen können wir eine dringend benötigte qualitativ hochwertige Pflege in allen Sektoren und Settings ermöglichen, wird uns auf dem Weg zu guten Gesundheitsergebnissen weiterbringen.

Sie als Wissenschaftlerin wollen mit Ihrer Forschung ebenfalls dazu beitragen, die Rahmenbedingungen von Gesundheit und Pflege sowie der berufsgruppen- und settingübergreifenden Zusammenarbeit und Qualifikation von Gesundheits- und Pflegeprofessionen zu verbessern. Sie arbeiten mit Ihrem Forschungsteam an der Ostfalia Hochschule aktuell an zwei Projekten, die im Kontext zur Corona-Pandemie stehen. Das erste ist ein Delegationsmodell, das es dem Pflegepersonal in der intensivmedizinischen Versorgung in der Praxis erleichtern soll, fachfremdes Personal einzuschätzen. Wie sieht die Projektstruktur aus und wie sind Ihre Erfahrungen in der Praxis?
Eigentlich verhält es sich anders. Es handelt sich dabei um ein Projekt, in dem die Optimierung und Weiterentwicklungspotenziale der häuslichen Krankenpflege in Baden-Württemberg mit der zentralen Fragestellung untersucht wird, wie sich die Fachlichkeit der professionellen Pflege zielgerichteter in die Verordnungspraxis der rezeptierenden Ärztinnen und Ärzte und Prozesse der häuslichen Krankenpflege integrieren lassen. Eine Fragestellung im Projekt versucht zu beantworten, inwiefern Modelle der Delegation die Verordnungspraxis der HKP zwischen verordnendem/r Arzt/Ärztin und Pflegefachperson und ambulantem Dienst die Verordnungspraxis optimieren können.

Wie haben Sie das umgesetzt?
Wir haben vor dem Hintergrund unserer Recherchen, theorie- und/oder wissenschaftlich basierte Delegationsmodelle gesucht. Plötzlich ereilte uns die Covid-19-Pandemie. In Niedersachsen wurden von politischer Seite Vorschläge gemacht, auch Medizinstudierende oder andere nicht-pflegefachlich-qualifizierte Berufsgruppen in die Intensivpflege für die Versorgung beatmungspflichtiger an Covid-19 erkrankter Menschen einzusetzen.

Uns war sofort klar, dass die Pflege dieser Klientel höchst komplex ist und viel Wissen erfordert und ohne Vorbereitung und Aufgabenzuweisung schnell zu einer Überforderung des eingesetzten Personals führen kann. Noch stärker empfanden wir das Problem, dass der Einsatz von nicht angemessen qualifiziertem Personal eine Patientengefährdung erhöhen kann, wenn dieses nicht weiß, wie die Parameter, Gesundheitszustände und weiteres mehr richtig einzuschätzen sind, um dann angemessen zu handeln.

Bei welcher Stellschraube setzen Sie also an?
Entscheidend ist an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass der Einsatz von Fremdpersonal leider oft mit fehlender sozialer und fachlicher Akzeptanz verbunden ist (zeigte sich in HNET – Veröffentlichung die im Gesundheitswesen erscheint) und daraus eine Vermeidung des Einsatzes erfolgt. Der Krisenfall hat/hätte jedoch gezwungenermaßen dazu geführt, dass eine Vermeidungsstrategie bei gegebenenfalls  deutlich erhöhten Patientenzahlen nicht tragbar gewesen wäre.

Daher haben wir einen Bedarf gesehen, diese Vermeidungsstrategie aufzubrechen. Ein Delegationsmodell beinhaltet grundsätzlich zwei Parteien, denjenigen, der zielsicher delegieren muss und denjenigen, der die Aufgabe übernehmen soll. Um einer Überforderung vorzubeugen, müssen beide Parteien bei der Delegation ein „gutes Gefühl“ haben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Delegierende aus eigener Unsicherheit einen „Kontrollzwang“ entwickelt und derjenige, der die Aufgabe übernimmt aufgrund von Unsicherheit Tätigkeiten ausspart oder Fehler unterlaufen. Eine Entlastung wird sich unter derartigen Rahmenbedingungen nicht einstellen.

Um dieses „gute Gefühl“ zu erreichen, ist ein bestehendes bzw. sich entwickelndes Vertrauen und ein differenziertes Menschenbild unerlässlich. Daher sollte zunächst versucht werden, die nötigen Aufgaben den verfügbaren Mitarbeitenden entsprechend ihrer Kenntnisse und Erfahrungen sowie Qualifikationen und Kompetenzen zuzuordnen. Bei Mitarbeitenden, bei denen eine Einschätzung der Potenziale erschwert ist, da diese bislang nicht auf der Station und der Aufsicht des Delegierenden gearbeitet haben, muss zunächst Vertrauen aufgebaut werden. Dieses ist eng mit Kommunikation verknüpft. Um diesen Prozess zu fördern und zielsicher zu schnellen Ergebnissen zu führen, haben wir entlang bestehender Kompetenzmodelle einen begleitenden Fragenbogen entwickelt. Auch hier haben wir großen Wert darauf gelegt, dass beide Parteien eines Delegationsprozesses über die Selbst- und die Fremdwahrnehmung in die Entscheidung einbezogen werden.

Welches Mindset ist hier gefragt?
Ein Krisenfall erfordert eine flexible Arbeitseinstellung und schnelles Lernen. Die Weiterentwicklung von Personal ermöglicht es immer mehr bzw. andere Aufgaben delegieren zu können. Dies kann aber nur erfolgen, wenn der Delegierende den Delegationsempfänger darin unterstützt, z.B. eine neue Tätigkeit zu erlernen bzw. kennenzulernen. Ein Vormachen, ein Erklären, während die Handlung durchgeführt wird, das Ermuntern eine neue Handlung zunächst unter Aufsicht durchzuführen, erscheint im ersten Moment vielleicht als Mehraufwand, zahlt sich langfristig jedoch aus. Unerlässlich ist dabei, dass Schulungen bzw. Lernsituation frühzeitig und anhaltend erfolgen sowie Rückfragen jederzeit möglich sind.

Hinzu gesellte sich das Problem, dass in der Stadt Wolfsburg in einem Pflegeheim viele Bewohnerinnen und Bewohner an einer Covid-19-Infektion gestorben sind und im Klinikum Wolfsburg sich auch das Virus ausbreitete.

Was bedeutete das für die Praxis?
In diesem Kontext haben wir unsere Erkenntnisse zu Delegationsmodellen in der ambulanten Pflege auf das Setting Kliniken und Intensivpflege erweitert und ein entsprechendes Modell entwickelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Wir haben zunächst in Niedersachsen uns auch an politische Entscheidungsträger gewendet. Die Resonanz auf dieser Seite war gering. Gleichwohl haben wir von Kliniken gehört, die dieses Modell diskutiert und modifiziert auf die eigene Praxis angewendet haben.

So hat die „Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI) dieses Modell zur Empfehlung auf die Homepage gesetzt. Auch das Universitätsklinikum Münster hat es als hilfreich in der Akutphase beurteilt. Das Sozialdezernat der Stadt Wolfsburg wie auch das Klinikum Wolfsburg haben dieses Modell ebenso integriert. Ergänzt wurde das Delegationsmodell dann um ein Skills-Grade-Mix in der Corona-Krise. In diesem haben wir versucht, die Fragen zu beantworten, wie und unter welchen Bedingungen nicht-intensivpflegefachlich qualifizierte Personen (bspw. Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, Altenpfleger*innen, Medizinische Fachangestellte und weitere mehr) auf den Intensivstationen abhängig von Fähigkeiten und Qualifikationen optimal eingesetzt werden, um Überforderung und Patientengefährdung zu verhindern. Studienlagen weisen darauf hin, dass die Mortalitätsrate auf Intensivstationen steigen, je weniger qualifiziertes Personal eingesetzt wird.

Das 2019 gestartete interdisziplinäre Forschungsprojekt „NOVELLE – im Notfall sicher handeln“ soll im Zuge der Corona-Pandemie um neue Dimensionen erweitert werden. Worum geht es in diesem Projekt?
NOVELLE ist ein vom Innovationsfonds gefördertes Projekt und steht als Akronym für „Sektorenübergreifendes & integriertes Notfall- und Verfügungsmanagement für die letzte Lebensphase in der stationären Langzeitpflege“.

Die pflegerische Versorgung von pflege- und hilfebedürftigen Menschen gestaltet sich aufgrund der zumeist weit vorangeschrittenen Pflegebedürftigkeit als immer komplexer. Erfahrungen wie auch wissenschaftliche Auswertungen weisen darauf hin, dass bei einer Änderung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Bewohnerinnen und Bewohner der Pflegeheime relativ häufig der ärztliche Bereitschaftsdienst konsultiert oder der Rettungsdienst gerufen werden. Damit verbunden sind dann häufig Krankenhauszuweisungen, die entweder nicht notwendig und auch nicht erwünscht sind. Auffallend ist auch, dass die in einer Patientenverfügung fixierten Wünsche oder Wille in Notfallsituationen selten Beachtung finden, welches wiederum zu einer Unterbrechung der Kontinuität der Versorgung mit weitreichenden und daran anknüpfenden Komplikationen führt.

Gibt es weitere Problemfelder?
Erschwerend kommt hinzu, dass die interdisziplinäre und intersektorale Kooperation zwischen Pflegepersonal in Pflegeheimen, zuständigen Ärztinnen und Ärzten sich nicht selten als schwierig gestaltet, bspw. aufgrund mangelnder Absprachen, unpräzisen Anweisungen und von fehlenden relevanten Dokumenten geprägt ist. Auch ist die Zusammenarbeit zwischen dem Rettungsdienst und den Pflegeeinrichtungen häufig von Verständnis- und Verständigungsproblemen, nicht selten aufgrund von Unsicherheiten bezüglich des pflegerischen Handelns, gekennzeichnet.

Diese Unsicherheiten sind mittlerweile als strukturell verursacht zu begründen und haben sehr wahrscheinlich mit unseren Sozialgesetzbüchern, dem stark ärztlichen orientierten Blick und dem engen Verständnis der Versorgung auf Grundlage des SGB XI zu tun. Die in der Pflegeausbildung erworbenen Kompetenzen werden aufgrund der strukturellen und ökonomischen Anreizsysteme in der stationären Langzeitpflege kaum aktiv genutzt, so dass nicht selten Situationen und Ereignisse zu nicht notwendigen Rettungsdienstanrufen führen.

Wir möchten mit dem Forschungsprojekt NOVELLE interdisziplinär nutzbare Handlungsempfehlungen für häufige und relevante Notfallsituationen entwickeln sowie diese in den teilnehmenden Pflegeheimen implementieren und deren Auswirkungen anschließend prüfen. Insbesondere soll in diesen Handlungsempfehlungen der Wunsch der Bewohnerinnen und Bewohner – möglichst durch Advance Care Planning und im Kontext bester Pflege und Versorgung im richtigen Umfeld sowie zu Behandlungsentscheidungen und Lebensqualität ermittelnd – in die Handlungsempfehlungen integriert werden. Damit ist auch verbunden, das Versorgungs- und Schnittstellenmanagement zu optimieren, indem eine Handlungs- und Rechtssicherheit der Pflegefachpersonen in den Pflegeheimen erreicht wird.

Das übergeordnete Ziel ist, die Anzahl der Notfallrettungseinsätze und Krankenhauszuweisungen zu verringern.
Wir möchten damit eine neue Form der flächendeckenden Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeheimen im Rahmen der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen ermöglichen.
Zusätzlich haben wir im Kontext der Corona-Pandemie ein Positionspapier entwickelt, das davon ausgeht, dass die Pandemie als ein Notfall der besonderen Art zu betrachten ist. Dieser Sonder-Notfall hat eine neue Qualität, die mit existenzieller Bedrohung der Bewohnerinnen und Bewohner einhergeht und die Versorgungssituation der Heime der gesamten Republik betrifft.

Was bedeutet das genau für die Novellierung der Handlungsempfehlung im Corona-Kontext?
Es ist eine krisenhafte Situation in den Pflegeheimen entstanden, die rasches, zugleich fachlich angemessenes und interdisziplinäres Handeln – Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie Rettungsdiensten und Krankenhäusern – erfordert. Um hohe Sterblichkeitsraten in den Pflegeheimen aufgrund der Covid-19-Pandemie zu verhindern, benötigt es, auf evidenzbasierten Grundlagen entsprechende Handlungsempfehlungen für den Umgang mit der Corona-Pandemie zu formulieren.

Diese sollen ebenfalls Bezug auf die Notfalldefinition von Behringer 2013 nehmen, weil in dieser die verschiedenen Berufsgruppen integriert sind und gegebenenfalls die Pflegefachpersonen auch darauf hingewiesen werden, worauf zu achten ist, welche Parameter wichtig sind, wann Hausärzte, Rettungsleitstelle oder andere an der Versorgung Beteiligte zu kontaktieren sind, wie und wann welche hygienischen Regeln, Schutzmaterialien, Mundschutz etc., genutzt werden müssen. Es ist davon auszugehen, dass eine Handlungsempfehlung für ein Infektionsgeschehen dieser Art auch auf andere Infektionen übertragen werden kann, die immer wieder die Pflegeheime belasten (z.B. MRSA, Influenza, Noro-Virus).

Wie viele Einrichtungen sind hier beteiligt und nach welchen Kriterien haben Sie diese ausgewählt?
Derzeit sind etwa 13 bis 14 Einrichtungen in der Stadt Braunschweig beteiligt. Wir haben die Einrichtungen aufgesucht und über das Projekt aufgeklärt. Das hauptsächliche Kriterium war Freiwilligkeit. Des Weiteren versuchen wir, möglichst viele unterschiedliche Träger einbeziehen zu können. Ebenso wichtig ist, Einrichtungen aus unterschiedlichen Stadtteilen zu integrieren.

Wie können die Ergebnisse in die Breite getragen und nachhaltig umgesetzt werden?

Neben der üblichen Dissemination der Ergebnisse über Publikationen in wissenschaftlichen Journals, auf Kongressen und anderen üblichen wissenschaftlichen Veröffentlichungsmöglichkeiten, möchten wir die Handlungsempfehlungen so gestalten, dass sie bundesweit eingesetzt werden können. Des Weiteren ist mit der Entwicklung der Handlungsempfehlungen bereits in diesem Projekt angedacht, sie so zu entwickeln, dass sie digital weiterentwickelt werden können. Da wir das Projekt im Rahmen der Förderung von neuen Versorgungsformen entwickelt haben, hoffen wir auch, dass die Ergebnisse in Form einer neuen Versorgungsform Einzug in die Versorgungs- und Vertragsgestaltung erhalten.

In Ihrer Forschung spielt demnach interprofessionelle Zusammenarbeit eine große Rolle. Welchen Stellenwert hat die seit Anfang des Jahres initiierte generalistische Pflegeausbildung für die Entwicklung der professionellen Pflege? Welche Aspekte sind hier besonders wichtig?
Es werden sehr große Hoffnungen in die generalistische Pflegeausbildung gesetzt. Zumeist mit den Argumenten der Angleichung auf europäische Standards und Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe. Der Blick auf andere europäische Länder zeigt, wir werden nur dann eine Angleichung erhalten, wenn wir die Pflegequalifikation ausschließlich als primärqualifizierende Studiengänge anbieten. Die Generalistik alleine wird weder die Angleichung auf europäische Standards noch die Kompetenzen der Pflegeberufe verbessern, interprofessionell und intersektoral kompetenter arbeiten zu können.

Des Weiteren sollten wir nicht vergessen, dass in vielen anderen Ländern nach den generalistischen Pflegestudiengängen weitere hochschulische Weiterbildungsangebote oder innerbetriebliche Fortbildungen erforderlich sind, um die Absolventinnen und Absolventen auf die jeweiligen Praxisgebiete vorzubereiten und sich darin fachlich einzuarbeiten. Ich möchte davor warnen zu erwarten, dass mit generalistischer Ausbildung nach Ende der Ausbildung Absolventen*innen in den Arbeitsmarkt eintreten werden, die absolut kompetent jeden Arbeitsbereich sofort abdecken können. Diese Erwartungen können mit den Erfahrungen aus dem internationalem Raum nicht gedeckt werden.

Was heißt das für die Pflegefachausbildung in Deutschland?
Da wir in Deutschland innerhalb Europas einen Sonderweg gehen und überwiegend noch berufliche Pflegeausbildung anbieten und nur zu einem geringeren Teil die dringend benötigten akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen ausbilden, betrachte ich als wesentlich weiteren Aspekt, an den Hochschulen akademische Weiterbildungsangebote für spezialisierte Bereiche, wie beispielsweise Praxisanleiter*innen, gerontologische und gerontopsychiatrische Pflege u.w.m., anzubieten, um den generalistisch ausgebildeten Pflegefachpersonen auf Zertifikatsebene und hochschulischem Niveau die Möglichkeiten zu offerieren, sich beständig weiterbilden zu können. Wir benötigen mehr denn je qualitativ hochwertige Weiterbildungsangebote, damit nach einer generalistischen Ausbildung das erforderliche Spezialwissen für die unterschiedlichen Fachdisziplinen, Sektoren, Settings, Aufgaben und Verantwortlichkeiten erworben werden kann.

Hier betrachte ich die Hochschulen als ideale Anbieter für Weiterbildungsangebote auf Zertifikatsebene, insbesondere für die Zielgruppe der nicht-traditionell Studierenden, zu denen die Absolventen*innen der berufsbezogenen Ausbildung gezählt werden können. In der Praxis und patientennahen Versorgung ist gefordert, dass auf wissenschaftlichen und neuesten Erkenntnissen basierende gesundheitliche und pflegerische Versorgung angeboten wird, wie aus diversen Paragrafen des SGB V und SGB XI entnommen werden kann. Hochschulen können idealerweise in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern aus der Praxis dieses Wissen und diese Kompetenzen vermitteln.

Die berufsschulische Ausbildung ist die eine Seite, die andere ist die akademische Ausbildung. Universitäre Angebote primärqualifizierender Studiengänge nehmen langsam, aber stetig zu. Ist die parallele Ausbildungsstruktur optimal, oder soll sich Pflege in Deutschland langfristig zu einer rein hochschulischen Ausbildung entwickeln?
In Deutschland wird die Frage der hochschulischen Qualifikation von Pflegefachpersonen äußerst kritisch diskutiert. Jahrelang und immer noch wird der Eindruck vermittelt, dass es für die Pflegeberufe einzig Herz und emotionale Kompetenz benötige, um diesen Beruf fachlich gut ausüben zu können. Wobei Herz und emotionale Kompetenz mit geringer Bildung gleichgesetzt wird. Diese Sichtweise entspricht natürlich nicht den empirischen Erhebungen und ist in dieser Verkürztheit einzigartig in Europa. In fast allen Ländern in Europa sind primärqualifizierende Studiengänge für Pflegeberufe die Normalität. Deutschland leistet es sich immer noch, eine schulische Ausbildung für Pflegeberufe anzubieten.

Die parallelen Angebote betrachte ich als eher schädlich für die Professionalisierung der Pflegeberufe wie auch für eine dringend erforderliche mögliche Attraktivitätssteigerung. Aber noch mehr stehen für mich die Befunde aus dem internationalen Raum im Vordergrund, dass akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen einen Unterschied in der Qualität und den Gesundheitsoutcomes der Patientinnen und Patienten sowie den pflegebedürftigen Menschen machen. Diese Befunde wollen in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen werden.

Woran liegt das?
Immer noch hängen politische Entscheidungsträger dem anachronistischen Bild der Pflegeberufe nach, dass es Berufung sei und Herzblut erfordere. Erst kürzlich musste ich davon Kenntnis nehmen, als die Imagekampagne des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend Einzug in die Sozialen Medien hielt. Wiederum wurde die anachronistische und obsolete Botschaft vermittelt, dass Pflegeberuf eigentlich nur Herz und Berufung sei. Wir leben im Jahr 2020, im 21. Jahrhundert, und immer noch bemühen wir uns in Deutschland ein Bild der Pflegeberufe zu kreieren, das mehr als 100 Jahre alt ist und in dieser Beharrlichkeit nur in Deutschland vorkommt.

Es wird völlig verkannt, dass für eine qualitativ hochwertige Pflege eine wissenschaftliche Grundlage erforderlich ist, es neben den fachlich-wissenschaftlichen natürlich auch der sozialen und persönlichen Kompetenzen bedarf. Wie in so vielen Gesundheitsberufen. Es wird in diesen veralteten Bildern über Pflegeberufe noch nicht mal kritisch reflektiert, welchen Schaden eine nicht-fachliche Pflege anrichten kann. Sie kann nämlich Morbiditäts-, Mortalitätsraten erhöhen und Patientensicherheit gefährden.

Imagekampagnen wie diese sind auch nicht hilfreich, um ambitionierte Schülerinnen und Schüler für den Pflegeberuf zu interessieren. Noch zeigen sie den Mehrwert akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen für die Patientenversorgung.

Kritisch möchte ich diese Frage auch nutzen, um auf folgendes Problem in Deutschland hinzuweisen: das neue Pflegepersonalbemessungsinstrument wird eine weitere Entfachlichung und Deprofessionalisierung in der stationären Langzeitpflege befördern. Es werden mehr Helfer*innen in der stationären Langzeitpflege arbeiten. Als problematisch betrachte ich, dass das Instrument auf der Grundlage eines Pflegebedürftigkeitsbegriffes entwickelt wurde, der lediglich die Pflegebedürftigkeit bei Menschen ermitteln soll, um die Zuordnung zu Geld-, Sach- oder Kombinationsleistungen zu regeln. Dieses Instrument gibt aber keine Hinweise über die Pflegebedarfe, d.h. also, welche Maßnahmen oder Interventionen für eine bedarfsgerechte pflegerische Versorgung aus fachlicher Sicht erforderlich sind. Damit möchte ich sagen: Ein Pflegegrad 3 sagt zunächst wenig darüber aus, welche pflegerischen Maßnahmen und Interventionen erforderlich sind. Handelt es sich um eine überwiegend kognitiv beeinträchtigte Person oder über eine Person, die mehr körperliche Beeinträchtigung hat und gegebenenfalls mehr sogenannte behandlungspflegerische Maßnahmen benötigt? Diese Bedarfe sind per se aus dem Pflegegrad nicht zu ersehen.

Sehen Sie weitere Defizite?
En weiteres Problem ist, dass das SGB XI als Teilleistungsrecht nur einen geringen Teil pflegefachlicher Leistungen abdeckt. Viele pflegerische Leistungen, die aus Bedarfsperspektive erforderlich sein könnten, werden häufig nicht oder nicht angemessen finanziert und werden aus diesem Grunde nicht angeboten. Es wäre aus professioneller Perspektive sinnvoller gewesen, ein Personalbemessungsinstrument auf der Grundlage bspw. des Pflegeberufegesetzes und eines Skills-Grade-Mix-Konzeptes zu entwickeln.

Ich formuliere hier bewusst, dass mehr Helferinnen und Helfer in der Pflege eine Entfachlichung und Verschlechterung in der Qualität pflegerischer Versorgung als Konsequenz entwickeln werden, um eine Debatte über die Frage anstoßen zu wollen, ob wir wirklich in Deutschland annehmen, dass Helferinnen und Helfer ebenso kompetent und qualifiziert sind und einfach fachlich ausgebildete Pflegefachpersonen ersetzen können? Wenn diese Frage mit „Ja“ beantwortet wird, müssen wir die nächste Frage stellen, nämlich, warum wir uns in Deutschland dann noch Investitionen und Anstrengungen für eine Pflegeberufereform und Pflegeausbildung investieren? Abgesehen davon, dass internationale Studienlagen darauf hinweisen, dass qualifizierte Pflegefachpersonen einen Unterschied und einen Mehrwert bezogen auf Gesundheitsoutcomes und Lebensqualität bewirken.

Wird diese Evidenz an irgendeiner Stelle angezweifelt?
Für mich ist erschreckend, wenn ein Vertreter einer Krankenhausgesellschaft formuliert, es sei doch gar nicht belegt, dass Pflegefachpersonen für die Versorgung kranker Menschen in Kliniken wirksam seien. Diese Aufgaben könnten doch andere Berufsgruppen übernehmen. Diese Aussage wurde vor dem Hintergrund der Personaluntergrenzen formuliert.

Bedenklich ist, dass wir in Deutschland bezogen auf Pflegeberufe die Hinweise auf deren Mehrwert in internationalen wissenschaftlichen Studienlagen nicht wahrnehmen wollen und Pflegefachpersonen wegen einer anderen Finanzierung für die Krankenhausleistungen nun vermehrt in Erbringung hauswirtschaftlicher Leistungen eingesetzt werden statt in die Versorgung von Patientinnen und Patienten. Das heißt, wir leisten uns in Deutschland, Pflegefachpersonen auszubilden, wollen sie aber offenbar nicht in die Versorgung von Patientinnen und Patienten sowie Pflegebedürftigen einsetzen, weil entweder aus irgendeinem und nicht rational zu erklärendem Grunde lieber andere Berufe oder Helferinnen und Helfer eingesetzt werden. Häufig wird mir das Argument entgegengebracht, wir könnten doch die internationale Studienlage zu Wirksamkeit und Mehrwert akademischer Pflege nicht auf Deutschland übertragen, da diese doch anders ausgebildet sei. Darauf antworte ich: „Ja genau! Ich möchte gerne wissen, wie wir mit im internationalen Vergleich betrachteter formal geringerer Qualifikation in Pflegeberufen bei schlechteren Pflegepersonal-Patientenschlüsseln, aber ebenso hohen und komplexen Versorgungssituationen eine bessere Qualität schaffen können?“ Auf diese Frage habe ich bis jetzt keine Antwort erhalten.

Abschließend möchte ich festhalten: Wir hätten mit dem Pflegeberufegesetz eine eindeutige Stellungnahme der politischen Entscheidungsträger für eine akademische Primärqualifizierung der Pflegeberufe benötigt. Schauen wir uns die Hebammen an. Es ist zu lesen, dass in vielen Bundesländern mehr Personen in die Hebammenausbildung gehen. Die Hebammen haben den Vorteil eines klar abgegrenzten Arbeitsgebietes, müssen sich nicht ständig mit den Botschaften, der Beruf sei Berufung und ganz viel Herz, rumschlagen. Demnächst wird die Ausbildung, dank Intervention auf europäischer Ebene, nur noch auf Hochschulniveau stattfinden. Merkmale wie diese führen zu einer Attraktivitätssteigerung eines Berufes.

Sehr wahrscheinlich werden wir auch nur über eine europäische Intervention zu grundsätzlichen primärqualifizierenden Pflegestudiengängen kommen (müssen), da das Beharrungsvermögen auf Entscheidungsträgerseite, im anachronistischen Mindset zu Pflegeberufen verbleiben zu wollen, sehr hoch ist.

Wie verändert sich die pflegewissenschaftliche Dimension im Zuge der Akademisierung?
Mit den pflegewissenschaftlichen Studiengängen an Hochschulen hat auch die pflegewissenschaftliche Forschung zugenommen. Sie ist von sehr hoher Bedeutung, wenn wir Fragen zur qualitativ hochwertigen pflegerischen und gesundheitlichen Versorgung beantworten möchten. Ohne pflegewissenschaftliche Perspektive werden nicht selten Fragen der Versorgungsforschung, der Digitalisierung und neuen Technologien, der klinischen Forschung nicht umfassend beantwortet. Es ist nicht selten an Ergebnissen von Forschungsprojekten mit Fokus auf pflegerische Versorgung und pflegerischen Berufsgruppen erkennbar, dass die pflegewissenschaftlichen Erkenntnisinteressen fehlen.

Aber auch in der Pflegewissenschaft gilt wie in allen Wissenschaften, dass die ermittelten Ergebnisse zunächst vorläufig sind, sie sind nicht alternativlos, die Ergebnisse und Erkenntnisse werden mit weiteren Studien modifiziert, angepasst oder ganz anders beurteilt werden müssen. In der Pflegewissenschaft gibt es wie in allen Wissenschaften unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ansätze, sich entwickelnde Fachdisziplinen, abhängig von Fragestellungen unterschiedliche Herangehensweisen. Es gibt nicht „die Pflegewissenschaft“ wie man auch nicht von „der Wissenschaft“ sprechen kann.

Wogegen richtet sich Ihre Kritik?
Teilweise gewinnt man den Eindruck, dass Forschungsaufträge, die in politiknahen Bereichen mit pflegewissenschaftlichen Schwerpunkten vergeben werden, in den Resultaten als alternativlos von den Auftraggebern und Auftraggeberinnen verstanden werden und ein wissenschaftlicher Diskurs bzw. eine wissenschaftliche Debatte nicht mehr als erwünscht erscheint. Das bringt die Pflegewissenschaft als Disziplin in eine schwierige Situation, da nicht wenige sehr wichtige Themen in politiknahen Bereichen vergeben werden. Diese sind aber eingebettet in Interessen von Körperschaften, also Selbstverwaltung ohne Pflegeberufe, von Arbeitgeber- und Trägerverbänden und auch politischen Interessen. Es werden nicht selten sehr aufwändig sehr interessante Ergebnisse produziert, die aber auch ergänzt, kritisch reflektiert und weiterentwickelt werden müssen – wie es in den Wissenschaften üblich ist.

Dieser Aspekt des wissenschaftlichen Diskurses ist nicht nur für die Entwicklung der Pflegewissenschaft bedeutsam, sondern auch, weil diese Ergebnisse häufig Einzug halten in Reformmaßnahmen. Sie haben also Auswirkungen auf die Versorgung der Menschen. Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir gerade in diesen Bereichen der Auftragsvergabe von den Auftraggeberinnen und Auftraggebern eine größere Offenheit für die notwendigen wissenschaftlichen Diskurse und Debatten. Sie auszuschließen bedeutet nicht, dass die Akzeptanz größer oder die wissenschaftliche Kritik oder auch kritische Reflexion daran geringer ist. Die kritischen Äußerungen sind nur unterbunden.

Sehen Sie weitere Interventionsmöglichkeiten?
Aus diesem Grunde ist, auch wegen der Relevanz der Ergebnisse pflegewissenschaftlicher Forschung, eine Förderung der Forschung außerhalb der Auftragsvergaben von großer Bedeutung. Der Pflegenotstand, Covid-19, Prävention und Gesundheitsförderung und viele Themen mehr verdeutlichen, dass die Förderung pflegewissenschaftlicher Forschung von sehr großer Bedeutung ist. Dafür sind jedoch unabhängige Forschungsförderungen notwendig. Vor vielen Jahren wurde von der Robert Bosch Stiftung ein Papier zur pflegewissenschaftlichen Forschung veröffentlicht. Dieses Papier zeigt unter anderem, wie differenziert pflegewissenschaftliche Forschung, aber auch wie wichtig diese Erkenntnisse sind, um die gesundheitliche und pflegerische Versorgung für die unterschiedlichen Settings, Sektoren und Zielgruppen zu verbessern und zu gestalten.

Frau Professor Hasseler, vielen Dank für das Gespräch. <<

Ausgabe 02 / 2020