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„Pflege ist ein krisensicherer Beruf“

07.04.2020 12:30
Seit Juni 2018 ist Professor Dr. Cornelia Mahler Direktorin der neu gegründeten Abteilung Pflegewissenschaft an der Medizinischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dass auf dem Weg der Implementierung des primärqualifizierenden Studiengangs Pflege B.Sc. seit dem Wintersemester 2018/2019 einige Herausforderungen zu meistern sind, überrascht nicht, wenngleich Mahler die große Unterstützung und Aufgeschlossenheit hervorhebt, die sie auf ganzer Linie an der Fakultät erfahren hat. Nicht die schlechteste Voraussetzung, denn ein Forschungsgebiet Mahlers ist die Interprofessionelle Zusammenarbeit, die – als team- und zielorientierte Zusammenarbeit der Gesundheitsfachberufe – Effizienz und Effektivität der Gesundheitsversorgung verbessern könnte. Warum akademisch ausgebildete Pflegekräfte so wichtig für das deutsche Gesundheitssystem sind und wo man ihnen begegnen kann, dazu hat „Monitor Pflege“ Professor Mahler befragt.

>> Frau Professor Mahler, die Pflege steht aktuell im Fokus der Öffentlichkeit. In der schwierigen Zeit der Corona-Krise erfährt die Berufsgruppe sehr viel Unterstützung und Anerkennung für ihren Einsatz, der nicht zuletzt ein hohes gesundheitliches Risiko birgt.
Es wird offenbar, welche Bedeutung die Pflege für unser Gesundheitssystem hat, und das nicht nur in den Krankenhäusern, das möchte ich betonen, sondern für die Gesundheitsfürsorge der Bevölkerung im Allgemeinen. Wenn wir einen Blick ins Ausland werfen, finden wir beispielsweise Schulkrankenschwestern, die den Schülern hygienische Maßnahmen näherbringen oder Gemeindekrankenschwestern, deren Aufgabengebiet sich auch verstärkt auf Beratung und Unterstützung erstreckt.

Die Pflege zählt in der öffentlichen Wahrnehmung bei uns in Deutschland zu den angesehenen Berufsständen. Wenn Sie sich Rankings des Allensbacher Instituts ansehen, da befinden sich die Pflegekräfte immer in der Spitzengruppe mit Rettungssanitätern, Polizei oder Ärzten. Wenn es dann aber um das Bild der Pflege in Deutschland geht, ist das ein anderes. Traditionell wird Pflege in Deutschland anders wahrgenommen als im Ausland, wo Pflege meist hochschulisch qualifiziert ist und ein anderes Standing hat. Darüber hinaus ist meine Hypothese, dadurch dass wir weniger akademisch ausgebildete Leute haben, gibt es zu wenig, die positiv von ihrem Beruf sowie dessen Möglichkeiten und Potenzialen sprechen. Und diese Menschen sind erfahrungsgemäß notwendig, wenn Sie sich in Politik und Gesellschaft Gehör verschaffen wollen.

Und Sie wollen dazu beitragen, dass sich das ändert: Sie bieten an der neu gegründeten Abteilung Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät Tübingen seit dem Wintersemester 2018/2019 einen primärqualifizierenden Studiengang Pflege B.Sc. an. Damit gehören Sie bundesweit noch zu den Pionieren. Was war die Motivation für die Implementierung?
Ein Treiber dieser Entwicklung war die Pflegedirektorin des Universitätsklinikums Tübingen, die hochschulisch qualifizierte Absolventen forderte, um die Bewältigung der zunehmend komplexen Aufgaben der Pflege adäquat und aus der Profession heraus sicherzustellen. Ein Schulterschluss mit der Hochschule Esslingen war der nächste Schritt, wo dann das Curriculum – federführend von Professorin Dr. Astrid Elsbernd, Dekanin der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege an der Hochschule Esslingen, und Katrin Bader – entwickelt wurde.
Den günstigen Umstand einer Studienplatzinitiative des Landes Baden-Württemberg 2016 nutzend, das damit auch den Ausbau der Plätze im Bereich der Gesundheitsberufe förderte, bündelte man die Kräfte und kooperierte mit der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen als dritter Institution. Aus diesem Zusammenschluss entstand schließlich der Campus für Gesundheitswissenschaften Tübingen-Esslingen, der finanziell auch vom Land unterstützt wird.

Welche Studiengänge bietet der Campus?

Mit Pflege B.Sc. und Hebammenwissenschaft B.Sc. werden zwei Bacherlostudiengänge angeboten, zudem sind die Masterstudiengänge Population Based Medicine sowie Pflegewissenschaft in der Planung beziehungsweise Entwicklung.

Beim Studiengang Pflege hat man sich bewusst von Beginn an für das primärqualifizierende Modell nach internationalem Vorbild entschieden. Die neuen Bachelorstudiengänge qualifizieren beide ohne vorherige Ausbildung und führen zu einer Berufszulassung in den jeweiligen Berufen. Dagegen bietet die Hochschule Esslingen bereits seit 1999 Studiengänge – heute Bachelor und Master – in Pflege bzw. Pflegemanagement und Pflegepädagogik an, die eine abgeschlossene fachbezogene Berufsausbildung voraussetzen.
Für die Medizinische Fakultät sind die Gesundheitswissenschaften ein Gewinn: Neben der Grundlagenforschung und der Klinischen Forschung bieten sie mit der gesundheitswissenschaftlichen Versorgungsforschung eine dritte Säule innerhalb der Fakultät.

Welchen Aufwand bzw. Energie hat die Einrichtung der Abteilung Pflegewissenschaft gekostet? Gab es besonders große Steine, die Sie aus dem Weg räumen mussten?
Es war tatsächlich eine Pionierarbeit, die auf unterschiedlichen Ebenen geleistet werden musste. Sie stoßen bei der Planung auf Strukturen, die hinterfragt und auch modifiziert werden müssen. So war zum Beispiel die Tatsache, dass mit dem Sozialministerium, welches für die Berufszulassung zuständig ist, sowie dem Wissenschaftsministerium, das die hochschulische Qualifikation verantwortet, zwei systematisch sehr unterschiedlich arbeitende Behörden an dem Prozess beteiligt waren. Die Arbeitsabläufe in Einklang zu bringen war arbeitsintensiv. Darüber hinaus war ebenso die Berechnung des Bedarfs an finanziellen Ressourcen für die theoretische und praktische Qualifizierung eine große Aufgabe. Studiengänge dieser Art gab es bislang noch nicht an deutschen Hochschulen.

Wie sieht Ihr Konzept für die Arbeit der Abteilung Pflegewissenschaft aus? Wo setzen Sie die Schwerpunkte in der Disziplin der Pflegewissenschaft?
Die Hauptaufgabe besteht momentan darin, den Studiengang Pflege B.Sc. aufzubauen. Das heißt, es geht um die Qualifizierung Pflegender sowie insbesondere die des wissenschaftlichen Nachwuchses. Bachelor- oder Masterabsolventen möchten wir auf dem Weg zur Promotion unterstützen, denn durch die steigende Zahl der angebotenen Studiengänge in Deutschland benötigen wir wissenschaftlichen Nachwuchs. Auf der Agenda steht da beispielsweise der Anschub und die Weiterführung von Forschungsprojekten. Finanzielle Förderung von spezifischen Nachwuchsförderprogrammen für die Pflegewissenschaft wird bislang noch nicht ausreichend Rechnung getragen. Hier gibt es einen großen Aufholbedarf von Seiten der Forschungsförderung.

Woran haben Sie sich bei der Erstellung des Curriculums orientiert?
Das Curriculum haben Prof. Elsbernd und Katrin Bader von der Hochschule Esslingen auf Grundlage internationaler Vorbilder – z.B. Großbritannien – erstellt; es ist generalistisch ausgerichtet und orientierte sich von Anfang an an Aspekten, die inzwischen in das neue Pflegeberufegesetz Eingang gefunden haben. Eine große Herausforderung liegt auch in der Dialektik, berufsschulische und hochschulische Anforderung in Einklang zu bringen – an der Stelle hakt es nach wie vor. Der Austausch mit anderen Hochschulstandorten, die primärqualifizierend ausbilden bzw. ausbilden wollen, spiegelt unsere Erfahrungen in dieser Hinsicht wider. Hier bedarf es noch einiger Nachjustierungen.
Worauf wir in der Entwicklung großen Wert gelegt haben, ist die pflegewissenschaftliche Orientierung: kriteriengeleitetes und wissenschaftliches Arbeiten sind Kernbestandteile des Curriculums.

Wird mit einem Ausbau der primärqualifizierenden Studiengänge eine Konkurrenzsituation zur rein berufsschulischen Ausbildung geschaffen?
Solange es noch ausbildungsintegrierende Studiengänge gibt, also bis 2029, bei denen Studierende auch eine Ausbildungsvergütung erhalten, sind wir in einer Konkurrenzsituation. An dieser Stelle ist dringend Handlungsbedarf erforderlich, um auch die primärqualifizierenden Studiengänge attraktiv zu machen. Hier wird sich zeigen, ob dieser Weg der Qualifikation wirklich politisch gewollt ist. Grundsätzlich sprechen wir aber mit dem Studiengang eine andere Klientel an als mit der Ausbildung, was die Kritik einiger an der Akademisierung verstummen lassen wird. Wir gewinnen die jungen Menschen, deren Ziel eine Tätigkeit im Bereich der Pflege, aber auch ein Hochschulstudium ist.

Plädieren Sie für eine reine hochschulische Ausbildung der Pflegekräfte?
Wenn wir nach internationalem Vorbild vorgehen, ja. Wir werden aber immer einen Skillmix in der Versorgung haben, da wir stets auch Pflegende mit anderen Qualifikationen benötigen. Pflege ist ein hochanspruchsvoller Beruf, in dem ich naturwissenschaftliche Grundlagen, Medizin, sozialwissenschaftliche, psychologische, rechtliche, ökonomische, pädagogische und auch ökologische Grundlagen brauche, um einen Pflegebedürftigen optimal und unter Heranziehung der unterschiedlichsten Aspekte adäquat zu versorgen. Und in diesem Kontext ist es mir wichtig zu betonen, dass Pflege nicht da anfängt, wo jemand konkrete Unterstützung benötigt, sondern dort, wo bereits im Privaten Pflegefachkräfte konsultiert werden. Man muss sich einmal mehr bewusst machen, wie systemrelevant der Pflegeberuf ist.

Welche Aufgaben können die akademisch Ausgebildeten übernehmen?

Absolventen eines primärqualifizierenden Studiengangs Pflege sind im Gegensatz zu hochschulisch weitergebildeten Pflegefachkräften natürlich erst einmal Berufsanfänger. Sie nehmen jedoch schnell Räume für Entwicklungen und Verbesserungen wahr und hinterfragen so Manches. Sie müssen natürlich dann auf Strukturen stoßen, in denen eine Veränderung gewünscht ist.

Ist diese Offenheit denn vorhanden?
Ja, unsere Studierenden werden beispielsweise während des Studiums in ambulanten Pflegediensten, stationären Pflegeheimen und Kliniken eingesetzt, wo ich in vielen Einrichtungen eine große Offenheit erlebe. Ideen und Konzepte sind vorhanden, sodass die Studierenden kommen können.

Und wenn diese ihr Bachelorzeugnis in der Hand halten?
Grundsätzlich steht eine Aufgabenneuverteilung für hochschulisch Qualifizierte an, da sowohl in den Kliniken als auch in der gesamten Gesundheitsversorgung Strukturveränderungen anstehen. Ein ganz aktuelles Beispiel: Nehmen Sie die Gesundheitsämter, wo wir aktuell hochqualifiziertes Personal brauchen könnten, das die Menschen zur Handhabung und Einhaltung von Hygienemaßnahmen berät und schult. Oder schauen Sie auf die Advanced Practice Nurse (APN) – sie hat z.B. einen primärqualifizierenden Bachelorabschluss und macht anschließend ihren Master mit einem Schwerpunkt, in dem sie Kompetenzen erwirbt, die ihr eine selbstständige Entscheidung und eigenverantwortliches Handeln erlauben.

Doch es geht nicht nur um eine Aufgabenneuverteilung, sondern auch die rechtliche und die finanzielle Dimension müssen da neu gedacht werden. Schauen Sie, ein so stark medizinisch dominiertes Gesundheitssystem, wie wir es in Deutschland haben, gibt es in den westlichen Staaten kaum mehr. Das hat natürlich auch mit der Organisation der Pflege zu tun: Kammern sind bis jetzt nur rudimentär vorhanden, sodass wir aktuell gar nicht beziffern können, wie groß unsere stille Reserve ist. Das würde uns in der jetzigen Ausnahmesituation natürlich helfen. Wir brauchen eine Selbstverwaltung! Es geht schließlich um Patientensicherheit, und wir haben die Verpflichtung, diese gegenüber der Bevölkerung sicherzustellen. Diese Dimension der Pflege müssen wir noch viel deutlicher herausarbeiten.

Woran liegt der doch nach wie vor große Widerstand der Pflegefachkräfte am Kammersystem?
Ich denke, die Pflegekräfte sehen noch keinen Benefit darin, sich in Kammern zusammenzuschließen. Dieser muss noch besser kommuniziert werden. Bisher steht die Beitragsdebatte stets im Vordergrund und die Bedeutung der Versorgungssicherheit kommt einfach zu kurz. Als Negativ–Referenz wird häufig die Ärztekammer herangezogen, die in der Außenwahrnehmung primär damit beschäftigt ist, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Wir müssen uns bei diesem Projekt auf die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und die Patientensicherheit fokussieren – natürlich geht es in der politischen Dimension auch um die Stärkung des Berufsstandes selbst.

Das Thema der interprofessionellen Zusammenarbeit (IPZ) ist eben schon angeklungen. Wie offen zeigt sich Ihren Erfahrungen zufolge medizinisches Personal für die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal in der Praxis?
Es gibt einen tollen Cartoon vom CIHC (Canadian Interprofessional Health Collaborative), der mit der Frage: „How can they work together if they don‘t learn together?“ das Wesentliche feststellt: Wir müssen schon von Beginn an in der Ausbildung miteinander arbeiten und voneinander lernen, um einen frühen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Denn wenn ich mich für eine Ausbildung entscheide, ist das Berufsbild durch meine Sozialisation bereits geprägt. Im Rahmen des Ausbildungsverlaufes verändert sich das vorhandene Bild natürlich; man entwickelt sich also selber weiter – während das evozierte Bild eines anderen Berufes aufgrund mangelnder Erfahrung sich nicht an die tatsächlichen Gegebenheiten anpasst. Und das birgt für die Zusammenarbeit Konfliktpotenzial. Das Tätigkeits- und Verantwortungsprofil eines Physiotherapeuten oder Arztes bleibt aufgrund mangelnder Kenntnis das meiner Vorstellung.

Was ist notwendig, um die Kultur der IPZ erfolgreich zu kultivieren?
Wir müssen vom Ausbildungsbeginn an gemeinsam Ideen planen, durchführen und evaluieren, denn jede Profession ist anders kultiviert, hat eine andere Vorstellung; und hat auch unterschiedliche Ziele für den Patienten. Das muss reflektiert werden. Denn vielleicht kann ich mit dem Blick des Physiotherapeuten auf den Patienten etwas sehen, was mir durch die „Pflegebrille“ bisher gar nicht aufgefallen ist.
Die Medizin hat momentan das Thema Interprofessionalität ganz oben auf der Agenda, doch wie sich das für mich darstellt, fehlt hier zu oft der existenzielle Schritt der gemeinsamen Planung, der allerdings für die Akzeptanz unerlässlich ist.

Gibt es da ein Vorbild?
Kanada hat ein eigenes Framework für interprofessionelle Kompetenzen und die Zusammenarbeit definiert und entwickelt, wo es nicht nur auf Kommunikation ankommt, sondern auch auf Rollenverständnis, Verantwortlichkeit, Teamarbeit, Konfliktfähigkeit. Und natürlich immer den Patienten und seine Angehörigen im Blick zu haben. Das halte ich für ein gutes Modell.

Wäre es einfacher, wenn nur hochschulisch ausgebildet würde?
Es scheint hier vordergründig einfacher die Curricula zu verzahnen, weil man häufiger an einer Institution arbeitet, aber meine Erfahrungen aus den USA, Kanada, Schweden, Japan usw. zeigen, dass auch an den Hochschulen die Abstimmung schwierig ist, weil es eine große Heterogenität zwischen den Studiengängen gibt; wenig gemeinsame Räume – aber man findet sie. Für eine gute Möglichkeit halte ich die Einrichtung einer zentralen koordinierenden Stelle, die sich nur um das Thema interprofessionelle Ausbildung und Zusammenarbeit kümmert. Das ist natürlich Strukturarbeit in den Institutionen und Fakultäten, die Geld benötigt.

Welche Möglichkeiten gibt es, die berufliche Ausbildung mit den hochschulisch auszubildenden Berufen zusammenzubringen? Das scheint allein räumlich gesehen ungleich schwieriger.
Es gibt seit einiger Zeit die Idee zur Entwicklung eines Gesundheitscampus, die auch an einigen Standorten in Deutschland etabliert wird. An den Universitätsklinika gibt es meist noch die Schulen für die Gesundheitsberufe, wo es zum Austausch kommen kann.

Wir haben das in Heidelberg mit der Pflegeschule probiert, aber man stößt immer wieder auf Ressourcen- oder strukturelle Probleme. Die Lehrenden und Lernenden sind dafür offen, stelle ich immer wieder fest. Erfolgreiche interprofessionelle Ausbildung gab es bisher in Deutschland punktuell auf Modellprojektebene, in den letzten Jahren stark gefördert durch die Robert Bosch Stiftung. Ob sich dadurch an den einzelnen Standorten Strukturen entwickeln, die nachhaltig sind, wird sich zeigen.

Haben Sie eine Vision für die IPZ der Zukunft?
Für die Zusammenarbeit der Professionen wäre es meiner Meinung nach gewinnbringend, wenn wir in der Primärversorgung und in den Kliniken Strukturen hätten, wo beispielsweise im Rahmen von Fallkonferenzen Themen eingebracht und diskutiert werden könnten. Raum und Zeit für interprofessionelle Projektarbeit und Begegnungen zur patientenzentrierten kollaborativen Zusammenarbeit. Visionär und erstrebenswert ist für mich auch die Vorstellung des Patienten als Teil des Teams. Aber das ist wieder eine andere Dimension.

Interprofessionalität ist auch bei der Arzneimitteltherapiesicherheit von großer Bedeutung. Sie waren an der Universität Tübingen im letzten Jahr am Modellprojekt SINA (strukturiertes interprofessionelles Studienangebot zum Thema Arzneimitteltherapiesicherheit) mitbeteiligt. Warum ist Ihnen AMTS wichtig?
Ich bin 2005 an der Universität Heidelberg in die Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung gewechselt, um zu promovieren. Dort habe ich mich mit einem Projekt zur Arzneimitteltherapiesicherheit beschäftigt, in dem die Kommunikation zwischen Hausarztpraxis und Klinikum untersucht wurde. Aus der Pflegepraxis war mir das Thema AMTS bereits sehr vertraut und ich halte es für immens wichtig, da die Pflege an nahezu allen Punkten im Arzneimittelprozess mit den Patienten in Verbindung ist; von der Verordnung bis hin zur Verabreichung. Im ambulanten Bereich ist die Pflegekraft zum Beispiel Schnittstelle für die Kommunikation zwischen Patient, Hausarzt, Apotheken und Angehörigen. In der Klinik muss sie dem Patienten sagen können, welches Präparat sich in seiner Tablettendose befindet und wann er es einnehmen muss. Darüber hinaus kann die Pflegekraft die Wirkung des Arzneimittels beobachten.

Worum geht es bei SINA?
Da die AMTS nur interprofessionell verbessert werden kann, ist es von großer Bedeutung, die Inhalte und methodischen Ansätze auch in diesem Modus zu lehren und zu erlernen. Bisher gibt es in Deutschland noch kein strukturiertes interprofessionelles Studienangebot zur Erweiterung und Vertiefung von Kompetenzen in diesem Bereich. Mit einer geeigneten berufsbegleitenden Weiterbildung würden Spezialisten ausgebildet, die anschließend als Multiplikatoren die relevanten Akteure im Gesundheitswesen für die Risiken der Arzneimitteltherapie sensibilisieren und auf diese Weise dazu beitragen könnten, diese Risiken in der Patientenversorgung systematisch zu minimieren.

Eine wichtige Rolle bei der Arzneimitteltherapiesicherheit spielt der Medikationsplan. In diesem Jahr soll der elektronische Medikationsplan auf der Gesundheitskarte verortet werden können. Sie haben im Rahmen des Aktionsbündnisses „Sichere Arzneimittelanwendung Rhein-Neckar-Kreis Heidelberg“ einen Medikationsplan mitentwickelt, den Patienten oder Angehörigen online anlegen können.
Richtig, jeder User kann sich einen individuellen Medikationsplan erstellen, bei Bedarf ausdrukken aber auch online von überall auf der Welt darauf zugreifen. Der Plan ist nicht nur für Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch für den Arztbesuch oder einem Notfall mit Krankenhausaufenthalt wertvoll. Anhand dessen kann z.B. der Arzt Rückschlüsse auf Erkrankungen des Patienten ziehen.
Trotz der Relevanz führen die Wenigsten jedoch einen Medikationsplan mit sich. Hier sind alle Health Professionals als Akteure gefragt, denn wenn ich als solcher – sei es beipielsweise als Arzt in der Praxis oder als Pflegefachkraft eines ambulanten Dienstes – nicht auf den Medikationsplan eingehe, bzw. nicht die Medikation abfrage, ist der Plan bedeutungslos.

Welche Aufgaben liegen vor der Pflege?
Wir müssen einen stärkeren Fokus auf die hochschulische Primärqualifikation legen, der Pflege durch ein Kammersystem eine starke Stimme verleihen und Bereiche definieren, in denen Pflege selbständig und eigenverantwortlich handeln kann. Pflege ist ein Beruf mit akademischen Karrieremöglichkeiten und das muss in nächster Zeit einfach deutlicher werden. Bildung und Selbstwert sind zwei ganz entscheidende Aspekte für die Pflege und ihre Entwicklung. Heute und in Zukunft.

Frau Professor Mahler, vielen Dank für das Gespräch. <<

Ausgabe 01 / 2020