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Mehr als der „normale Wahnsinn“?

03.08.2020 11:34
Herausforderungen, Belastungen und Bewältigungsmaßnahmen im Zuge der der Corona-Pandemie stehen bei der Studie „Pflegerische Versorgung in Zeiten von Corona – Drohender Systemkollaps oder normaler Wahnsinn?“ im Fokus. Dazu wurden vom Team um Dr. Kira Isabel Hower, PD. Dr. Timo-Kolja Pförtner und Univ. Prof. Dr. Holger Pfaff, Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung der Universität zu Köln (imvr), Leitungskräfte aus deutschen Pflegeeinrichtungen befragt.

>> „Wir haben uns dafür interessiert, wie die Leitungskräfte von Pflegeeinrichtungen die Herausforderungen für die Versorgung der Risikogruppe pflegebedürftiger Menschen unter Corona einschätzen“, so der Studienleiter Professor Dr. Holger Pfaff. „Handelt es sich bei der Corona-Situation nur um die Fortsetzung des ‚normalen Pflege-Wahnsinns‘, der bereits vor Corona gegeben war, oder steuert das System durch die Zusatzbelastung einem drohenden Kollaps entgegen?“ Befragt wurden dazu Leitungskräfte aus ambulanten Pflege- und Hospizdiensten sowie stationären Pflegeinrichtungen und Hospizen. Die Anzahl per E-Mail kontaktierter Einrichtungen beläuft sich auf 4.330. Der Befragungszeitraum erstreckte sich vom 07.04. bis 25.04.2020 und wurde über das Onlineumfragetool „Lime-Survey“ durchgeführt.Die Verteilung ambulanter Pflegeeinrichtungen in der Untersuchungsstichprobe spiegele die der Bundesländer weitestgehend wider, geben die Autoren an.

Hinsichtlich der pandemiebedingten Herausforderungen und Belastungen wurden die teilnehmenden Leitungskräfte zunächst gefragt, inwiefern einzelne Herausforderungen in ihrem Fall gegeben waren und – falls sie gegeben waren – wie sehr sie diese als Belastung erlebten. Fazit: Die Sorge vor Covid-19-Infektionen bei Pflegebedürftigen und Mitarbeitenden zählt zu den größten Herausforderungen und wird von mehr als 70% der Leitungskräfte als mindestens stark belastend empfunden. Die Sorge vor einer Infektion unter Mitarbeitenden wird mit 99% als stärkste Belastung wahrgenommen, von ca. 70% der Leitungskräfte auch als mindestens stark belastend empfunden. Dabei steht die Angst vor Infektion oder Quarantänesituation von Mitarbeitern im Vordergrund, wodurch die Sicherstellung des Kundenversorgung möglicherweise nicht mehr gewährleistet sein könnte.

Hygienische „Ausnahmen“ sind besonders prekär

Auch die Beschaffung und der Verbrauch von Ausrüstung zum Infektionsschutz werden von ca. 97% der befragten Leitungspersonen als Herausforderung angesehen. Diese empfinden mehr als 60% der Befragten als mindestens stark belastend. Hierbei wird der Mangel an Schutzausrüstung als besonders belastend empfunden: „Am schlimmsten ist es, dass wir nicht genügend Schutzausrüstungen haben!“, beschreibt eine Teilnehmerin ihre Situation. „Es reicht immer nur für ein paar Tage und wir wissen nie, wann die nächste Lieferung kommt, oder ob überhaupt was kommt. Die Mitarbeiter ungeschützt zu den Patienten zu schicken, die unsere Hilfe aber unbedingt brauchen, das ist fast unerträglich.“ Darüber hinaus werden überteuerte und unseriöse Angebote an Schutzausrüstung als große Beeinträchtigung gesehen. „Die Beschaffung von Infektionsschutz ist ein zentrales Problem und wird kreativ, aber nicht systematisch gelöst“, erklärt Pfaff.

Vor diesem Hintergrund ist die Einhaltung von Hygieneregeln des Robert Koch-Institutes zumindest partiell als schwierig zu bewerten. Die Studienteilnehmer kritisieren, dass trotz bestehender Schwierigkeiten die Versorgung erbracht werden solle: „Besonders prekär finde ich die hygienischen ,Ausnahmen‘ für das Pflegepersonal. Zukünftig braucht mir das Hygiene- oder Gesundheitsamt nicht mehr mit übertriebener Hygiene kommen, wenn solche Zustände gerade geduldet werden. Das hinterlässt einen faden Beigeschmack, dass die angeblich so wichtigen Pflegepersonen, eigentlich nur Menschen dritter Klasse sind.“ „Pflegekräfte fühlen sich wie Kanonenfutter“, lauten Freitext-Angaben der Teilnehmer. Besonders im ambulanten Bereich stoßen den Ergebnissen zufolge Dienste an ihre Grenzen, da sie die Organisation der Arbeitsabläufe durch unabhängig voneinander arbeitenden Teams oft nicht gewährleisten könnten.

Kurzarbeit trotz Corona-Krise?

Circa 90% der befragten Leitungspersonen sehen die Ausstattung mit genügend Finanzmitteln als weitere Herausforderung im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie an, die von mehr als 50% als mindestens stark belastend empfunden wird. In den offenen Angaben wird deutlich, dass die Ausstattung mit genügend Finanzmitteln nicht ausreichend erfolgt bzw. nur erschwert in Anspruch genommen werden kann. „Es werden politisch Zusagen gemacht über hohe Prämienzahlungen, die bisher nicht refinanziert werden. Dies kann zu Unzufriedenheit führen und dadurch reduzier[t]e Leistungsbereitschaft.“ Auch die Angst vor Einnahmeausfällen beschäftigt die Leistungskräfte. Knapp 90% sehen darin eine Herausforderung und mehr als die Hälfte bewerten diese als mindestens stark belastend. Die Ergebnisse zeigen, lassen die Studienautoren verlauten, dass die Belastung durch Einnahmeausfälle bei mehr als 80% im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie angestiegen ist.

Viele Leitungskräfte beklagten einen Wegfall neuer pflegebedürftiger Klient*innen, da diese aus Angst vor möglichen Infektionen auf Leistungen verzichteten. Insbesondere im ambulanten Bereich führe dies zu Umsatzeinbußen bei gleichbleibenden Kosten, wie folgende Aussage verdeutlichen kann: „Es haben Kunden Einsätze abgesagt auf Anraten ihrer Hausärzte. Verständlich, aber schädigend.“ Infolge von Vertragskündigungen wird auch von einer Anmeldung von Kurzarbeit berichtet: „Da nur die Klienten geblieben sind, die sehr ,schwierig‘ sind, ist die Arbeitsbelastung bei weniger Personal wegen Kurzarbeit sehr viel höher.“ Einige sehen vor diesem Hintergrund ihre Existenz bedroht und fragen sich, „… wie lange eine kleine private Einrichtung noch existieren kann. Die wichtigsten Maßnahmen sind bereits eingeleitet, trotz alledem sind die Sorgen hoch.“

Auch durch ausbleibende Spendengelder und Öffentlichkeitsarbeit fehlten Einnahmen und existierende Nothilfen liefen an einzelnen Einrichtungen vorbei. Insbesondere der geschaffene Pflegerettungsschirm (Pflege-Rettungs­schirm nach § 150 Absatz 3 und Absatz 5a SGB XI, Anm. der Redaktion) könne die Umsatzeinbußen nicht auffangen, da Leistungen durch diesen nicht gedeckt seien. Unklar sei auch, ob dadurch gegebenenfalls Personalreduzierung im Jahr 2021 die Folge seien. Hierzu wird ebenfalls kritisiert, dass eine zuvor erreichte „gute Personaldecke und somit vorausschauende Personalpolitik also bestraft wird, weil die Kosten aus den Rücklagen (falls überhaupt vorhanden) oder auf Kredit finanziert werden müssen.“

In den Blick nehmen die Autoren auch die psychische und physische Gesundheit der Mitarbeiter*innen. Ca. 87% der befragten Leitungspersonen beschreiben die Überbelastung ihrer Mitarbeiter*innen als herausfordernd. Für knapp 45% ist diese mindestens stark belastend und hat bei etwa 65% seit Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie an Intensität gewonnen. Eine hohe Arbeitsintensität und -verdichtung werden von rund 80% der befragten Leitungspersonen als herausfordernd angesehen. Ca. 40% empfinden diese als mindestens stark belastend und bei mehr als 45% hat sich die Arbeitsintensität und -verdichtung während der SARS-CoV-2-Pandemie intensiviert. Auch wenn angemerkt wird, dass „die Arbeitsverdichtungen der letzten Jahre […] nicht mehr aufzufangen [sei], auch schon vor Corona“, zeichne sich im Zuge der Pandemie eine Intensivierung der Arbeit und Arbeitsdichte ab.

Dies wird unmittelbar auf das Fehlen und die Beschaffung von Schutzausrüstungen zurückgeführt. Auch die fehlende Unterstützung durch Angehörige stelle Pflegeeinrichtungen vor die Herausforderung, diese aufzufangen, und führe im Zuge des sozialen Kontaktverbots zu einer höheren Arbeitsintensität. „Unsere Patienten äußern vermehrt Ängste, benötigen sehr viel mehr Zuspruch, da auch Angehörige nicht mehr so zur Verfügung stehen.“ Demnach hat sich „die soziale Isolation manch eines Bewohners […] durch fehlenden Besuch erhöht“, sodass „der Betreuungsaufwand […] hier viel konzentrierter erfolgen [muss].“ Der Gesundheitszustand der Leitungskräfte selbst wird ebenfalls beleuchtet: „Das Wohlbefinden der befragten Leitungskräfte hat sich im Zuge der Pandemie deutlich verschlechtert. Die Leitungskräfte kommen dennoch 20% häufiger als vor Ausbruch der Pandemie krank zur Arbeit. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die pandemiebedingte Mehrbelastung oft von den Leitungskräften aufgefangen werden muss“, erklärt Pfaff. Um die psychischen und physischen Auswirkungen für Mitarbeitende, Pflegebedürftige und Angehörige gering zu halten, wendeten Leitungskräfte Strategien wie ständige Kommunikationsbereitschaft, vollständige Informierung und transparente Aufklärung als zusätzliche Bewältigungsstrategien an.

An Personalausfälle sei man indes bereits gewöhnt: „Personalmangel und Fachkräftemangel – wie immer!“ Das könne u.a. darauf zurückgeführt werden, dass bereits vor Ausbruch der Pandemie der Bezug neuer Arbeitskräfte schwierig war. Mehr als 60% sehen zudem in der Einhaltung von Regelungen zur Arbeitszeit und Einhaltung des Personalschlüssels eine Herausforderung. Diese wird von knapp 70% als keine bzw. mäßige Belastung empfunden und ist im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie nur bei 35% der befragten Pflegeeinrichtungen angestiegen.

Die bereits vor Ausbruch bestehenden Engpässe im Personalschlüssel haben sich im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie weiter verschärft, stellen die Studienautoren fest. Und doch: Trotz der vielschichtigen Auswirkungen der Pandemie glauben rund 62% der Befragten, die damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen bewältigen zu können. Dies lasse darauf schließen, dass Pflegeeinrichtungen im Notstand erprobt und dadurch widerstandsfähig seien, resümieren die Autoren.

„Deutlich wird“, sagt Pfaff, „dass sowohl Arbeitsverdichtungen als auch Überlastungszustände bereits vor der Pandemie bestanden und generell in einem Missverhältnis zu der mangelnden gesellschaftlichen sowie finanziellen Anerkennung stehen (Gratifkationskrise).“ Anstelle von einer als kurzzeitig wahrgenommen Anerkennung in Form von Applaus, werde eine langfristig wirkende leistungsgerechte Vergütung und eine reelle Refinanzierung von Aufwendungen gefordert – generell, aber besonders im Zuge der Mehraufwände durch die Corona-Pandemie.

Als Schlüsselfaktor für die Krisenbewältigung macht er den sozialen Zusammenhalt aus: „Die Befragungsergebnisse verdeutlichen, dass der soziale Zusammenhalt in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen eine der stärksten Ressourcen zur Bewältigung der Corona-Pandemie ist. In Anbetracht knapper finanzieller und personeller Ressourcen, gewinnen gegenseitiges Miteinander, Unterstützung und Vertrauen an Bedeutung.“ <<

Ausgabe 02 / 2020