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Systemrelevanz sichtbar machen

03.08.2020 12:02
Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, hat Mitte Mai ein Update des 5-Punkte-Programms für bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte vorgeschlagen. Gute Arbeit sei gerade in der pandemischen Zeit nur im Rahmen optimaler Arbeitsbedingungen und fairer Gehälter möglich. In Anlehnung an sein 5-Punkte-Programm anlässlich der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) schlägt der Pflegebevollmächtigte deshalb mit „Mehr PflegeKRAFT 2.0“ ein aktualisiertes Programm vor. Auch in seinem Mitte Juli veröffentlichten Zwischenfazit zur Situation der Pflege während der Corona-Pandemie, formuliert Westerfellhaus eindeutige Forderungen.

>> „Der Aussage, die Pflege sei systemrelevant, müssen endlich auch Taten folgen. Pflegekräfte haben ein Recht auf attraktive Löhne und zeitgemäße Arbeitsbedingungen – im Krankenhaus, der ambulanten und stationären Langzeitpflege und in der Rehabilitation. Es wird Zeit, dass alle Beteiligten, die Einrichtungen, ihre Träger und natürlich auch die Pflegekassen mit diesem Ziel an einem Strang ziehen“, sagt der Pflegebevollmächtigte Andreas Westerfellhaus und fordert dazu:

  • 1. Flächendeckend faire Löhne in der Langzeitpflege: Attraktive Löhne und zeitgemäße Arbeitszeitmodelle müssten in einem Tarifvertrag geregelt werden, der auf die gesamte Langzeitpflegebranche erstreckt werden kann. Das bedeute auch: Die Refinanzierung von Tariflöhnen müsse Realität werden.
  • 2. Ausreichend Kollegen eine Voraussetzung für familienfreundliche Arbeitszeit: Pflegekräfte bräuchten individuell passende Arbeitszeitmodelle und verlässlich ausreichende Erholungsphasen. Bedarfsgerechte Personalbemessung und -ausstattung sind dazu der Schlüssel.
  • 3. Mit Digitalisierung mehr Zeit für Pflege statt für Bürokratie: Die Möglichkeiten der Digitalisierung müssten endlich auch in der Pflege nutzbar gemacht werden. Vordringlich müssten eine einheitliche elektronische Abrechnung sowie eine digitale Anwendung für die Verordnung und Genehmigung häuslicher Krankenpflege umgesetzt werden.
  • 4. Mehr Verantwortung durch Heilkundeübertragung: Die Versorgung der Zukunft werde nur mit einem guten Qualifikationsmix und interprofessioneller Zusammenarbeit gelingen. Dazu müssten heilkundliche Aufgaben gezielt und dauerhaft auf Pflegefachkräfte übertragen und diese gleichzeitig stärker von einfachen pflegerischen Verrichtungen und pflegefernen Hilfstätigkeiten entlastet werden.
  • 5. Eine Selbstverwaltung für die Pflege: Pflegekammern müssten in allen Bundesländern als Ansprechpartner für Fortbildung, Standesrecht und fachliche Standards gegründet werden. Die Bundespflegekammer müsse im Gemeinsamen Bundesausschuss, der Gematik und anderen Selbstverwaltungsgremien sitzen und die Politik in allen pflegeberuflichen Fragen beraten.

 

Wem stehen Bonuszahlungen zu?

Die ebenfalls Mitte Mai beschlossene und seit 23. Mai in Kraft getretene Regelung zu Bonuszahlungen in der Altenpflege im „Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (Pandemieschutzgesetz II) ist laut Westerfellhaus „eine gut gemeinte Anerkennung. Doch sie löst auf Dauer keines der Probleme der Pflege“, wie er im Spiegel-Interview am 10. Juli sagte. Darin kritisiert er auch die Ablehnung einiger Arbeitgeber, sich an den Aufstockungszahlungen der Länder in einer Höhe von bis zu 500 Euro zu beteiligen. Der Bund kommt für den Betrag bis zu 1.000 auf, der aus der Pflegeversicherung finanziert wird. Leer geht qua Gesetz die Krankenpflege aus, „aber in der Altenpflege wurde schon immer schlechter gezahlt als in der Krankenpflege und um zu verhindern, dass die Kosten auf den Eigenanteil der Pflegebedürftigen umgelegt werden, fließt die Zuwendung hierher“, erklärt Westerfellhaus im Interview.

Doch richtet er mahnende Worte an die Klinikbetreiber, da viele Krankenhäuser finanziell durchaus in der Lage wären, ihren Beschäftigten selbst einen Bonus zu zahlen. „Seit Januar werden ihre Ausgaben für höhere Löhne komplett von den Krankenkassen refinanziert – dies wäre sicher auch für Prämien möglich. Klinik-Manager wären also gut beraten, jetzt in ihre Beschäftigten zu investieren.“ Im Zentrum stehen für den Pflegebeauftragten verlässliche Vorgaben für die Personalausstattung sowie ein „vernünftiger Flächentarifvertrag, der für attraktive Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sorgt und für alle Unternehmen verbindlich ist“.

„Nicht nur nach Fehlern, sondern nach Lösungen suchen“

Das unterstreicht Westerfellhaus in seinem am 13. Juli veröffentlichten Zwischenfazit „Corona-Krise & Pflege: Nicht nur nach Fehlern, sondern nach Lösungen suchen!“ Pflegekräfte brauchen nicht nur Applaus oder einmalige Pflegeboni, sondern vor allem eine flächendeckend attraktive Entlohnung mindestens auf Tarifniveau und optimale und familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Es ist beschämend, dass so viele Arbeitgeber in der Langzeitpflege und in den Kliniken sich da einfach nicht bewegen wollen. Die Sozialpartner müssen sich endlich auf einen Tarifvertrag einigen, welcher auf die gesamte Langzeitpflegebranche erstreckt werden kann.“

In diesem Tarifvertrag sollten neben attraktiven Löhnen insbesondere zeitgemäße Arbeitszeitmodelle vorgesehen werden. Daneben müsse endlich die Refinanzierung von Tariflöhnen Realität werden, so dass gerade auch ambulante Pflegedienste gegenüber Kostenträgern nicht mehr als Bittsteller auftreten müssten. Westerfellhaus hält es für richtig, dass ein Arbeitgeberverband in der Pflege gegründet wurde, der die Tarifverhandlungen mit verdi führe. Allerdings vertritt die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) mit einer Reihe von gemeinnützigen Pflegeanbietern wie AWO, Paritätischer und ASB, nur einen Teil der Arbeitgeber. Die umsatzstärksten privaten Pflegeanbieter sind im Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) organisiert. Dieser lehnt Tarifverhandlungen ab und begrüßte den im Januar von der Pflegekommission und im April im Kabinett abgesegneten Beschluss zum Pflegemindestlohn, aufgrund dessen es eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages nicht mehr bedürfe.

Der Pflegemindestlohn für ungelernte Pflegekräfte steigt demnach um 16 Prozent (Ost) bzw. 11 Prozent (West) von derzeit 10,85 Euro bzw. 11,35 Euro pro Stunde schrittweise bis 2022 auf 12,55 Euro pro Stunde; das entspreche, so rechnet verdi vor, bei einer 40-Stunden-Woche einem Monatsentgelt von rund 2.183 Euro. Für Pflegekräfte mit ein- bzw. zweijähriger Ausbildung steigt der Mindestlohn bis 2022 um 22 Prozent (Ost) bzw. 16 Prozent (West) auf 13,20 Euro pro Stunde; damit liege bei einer 40-Stunden-Woche das Monatsgrundentgelt bei 2.296 Euro. Erstmals wird es ab Juli 2021 auch einen Pflegemindestlohn für dreijährig ausgebildete Fachkräfte geben. Dieser soll zunächst 15 Euro pro Stunde betragen und er steige im April 2022 auf 15,40 Euro pro Stunde; das bedeute bei einer 40-Stunden-Woche ein Grundentgelt von 2.678 Euro. Darüber hinaus haben Pflegekräfte künftig einen Anspruch von 25 bzw. 26 Tagen Urlaub pro Jahr; der gesetzliche Anspruch betrug bis zum 30. Juni 20 Tage.

Mehr Flexibilität und Unterstützung für die häusliche Pflege – dauerhaft

„Durch das Coronavirus wurden uns – wie durch ein Brennglas – Stärken und Schwachstellen in der Versorgung der Pflegebedürftigen und Patienten gezeigt, aber eben auch Potenziale zur Weiterentwicklung“, bilanziert Westerfellhaus in seinem Zwischenfazit. Hier müsse man ansetzen, um auch künftigen Herausforderungen selbstbewusst und handlungsfähig begegnen zu können. Neben dem flächendeckenden Tarifvertrag bedürfe es  ebenso mehr Flexibilität und Unterstützung für die häusliche Pflege. Gerade in der Pandemie sei ein hohes Maß an Flexibilität bei den ambulanten Pflegeleistungen notwendig. Für die aktuellen, pandemiebedingten Versorgungsprobleme sei diese Flexibilität punktuell und befristet geschaffen worden.

Das am 15. Mai abschließend im Bundesrat beschlossene „Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, auf das sich Westerfellhaus hier bezieht, sieht beispielsweise die Auszahlung von Pflegeunterstützungsgeld als Lohnersatzleistung für 20 statt für 10 Tage vor, zudem wird diese Leistung nicht beim Eintreten eines familiären Pflegefalls, sondern auch beim Wegfall der bestehenden Unterstützung gezahlt, beispielsweise wenn eine Pflegekraft ausfällt oder ein ambulanter Pflegedienst schließt.

Zur Überbrückung etwa von quarantänebedingten Versorgungsengpässen in der Pflege können dem Beschluss nach stationäre Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen in Anspruch genommen werden. Der Leistungsanspruch für Kurzzeitpflege in stationären Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen wird zeitlich befristet angehoben. Auch besteht nach dem Gesetz die Möglichkeit, dass Pflegebedürftige im Pflegegrad 1 den Entlastungsbetrag in Höhe von 125 Euro – abweichend von den derzeit geltenden Vorgaben nach Landesrecht – auch anderweitig verwenden. Dies gilt zeitlich befristet bis zum 30. September 2020 beispielweise für haushaltsnahe Dienstleistungen.

Anbieter im Bereich der Alltagsunterstützung sollen darüber hinaus Mindereinnahmen und außerordentliche Aufwendungen von der Pflegeversicherung erstattet bekommen. Die Erstattung der Mindereinnahmen wird allerdings begrenzt auf bis zu 125 Euro monatlich je Pflegebedürftigem, der die Dienste des Angebotes nicht in Anspruch nimmt.

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen benötigten jedoch deutlich umfassendere und dauerhaftere Flexibilität bei den ambulanten Pflegedienstleistungen. „In meinem Konzeptpapier zum Entlastungsbudget 2.0 habe ich deshalb einen praktikablen Vorschlag zur Neujustierung der ambulanten Pflegeleistungen vorgelegt. Nahezu alle Leistungen bei häuslicher Pflege sollten demnach in zwei flexibel abrufbaren Budgets, dem Pflege- und Entlastungsbudget, zusammengefasst werden. Zusammen mit einer vertrauensvollen, unabhängigen Beratung vor Ort durch den „Pflege Ko-Piloten“ werden individuelle und passgenaue Pflegesettings endlich möglich“, stellt Westerfellhaus eine mögliche Modifikation vor.

Einen Schritt weiter bei der Übertragung heilkundlicher Aufgaben?

Was Delegation bzw. Substitution anbelangt, resümiert Westerfellhaus, dass mit den Corona-Gesetzen Pflegekräften und anderen Gesundheitsfachberufen mehr Verantwortung durch die Befugnis zur Ausübung von heilkundlichen Tätigkeiten ermöglicht wurden. „Dieser Schritt war richtig, da Pflegefachkräfte grundsätzlich zur Übernahme ausgewählter heilkundlicher Aufgaben qualifiziert sind. Und der Gesetzgeber hat diese Kompetenzen nun endlich anerkannt.“ Nun gelte es, den Strategieprozess des Bundesministeriums für Gesundheit zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheits- und Pflegebereich engagiert und auch zeitnah voranzutreiben und die für Notlagen übertragene Verantwortung in den Regelbetrieb zu übernehmen.
„Aufgaben, wie beispielsweise die Versorgung chronischer Wunden, Diabetes oder Infusionstherapien sollten endlich auf Pflegefachkräfte übertragen werden.“ Gleichzeitig müssten aber auch die Fachkräfte stärker von einfachen pflegerischen Verrichtungen und pflegefernen Hilfstätigkeiten entlastet werden. Die Versorgung der Zukunft werde nur mit einem guten Qualifikationsmix und in verstärkter interprofessioneller Zusammenarbeit über die Sektorengrenzen hinaus gelingen können. <<

Ausgabe 02 / 2020