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Unsichere Finanzierung des Eigenanteils

12.10.2020 11:20
Die Zahl der Menschen, die gepflegt werden müssen, wird infolge der demografischen Entwicklung in Deutschland weiter steigen. Weil die Pflegeversicherung nicht alle Kosten abdeckt, ist das IW der Frage nachgegangen, ob die Bundesbürger über genügend Vermögen – und private Zusatzversicherungen – verfügen, um ihren Eigenanteil zu finanzieren, wenn dies notwendig wäre.

>> Das Problem der Pflegefinanzierung spitzt sich zu. Einerseits steigt die Zahl der Pflegebedürftigen, andererseits bekommt das Pflegepe rsonal seit Juni dieses Jahres höhere Mindestlöhne, was die Preise für Pflegeleistungen erhöht. Und zudem, so mutmaßen die Autoren der Studie, könnten die Folgen der Corona-Pandemie für den Arbeitsmarkt an der Einnahmebasis der Pflegeversicherung zehren und deren Finanzierungsspielräume einengen. Da die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten abdeckt, würden auch die Betroffenen den steigenden Kostendruck zu spüren bekommen. Ihr Eigenanteil steigt bereits seit Jahren: Im Bundesschnitt musste ein Pflegebedürftiger demnach in stationärer Pflege im Jahr 2017 knapp 1.700 Euro pro Monat privat finanzieren, im Juli 2020 waren es schon mehr als 2.000 Euro.

Die Pflegeversicherung als Teilleistungsversicherung soll den Bürger morivieren, zusätzlich privat vorzusorgen. Das sei gar nicht so einfach, meinen die Autoren, denn die Kosten einer eventuellen Pflegebedürftigkeit seien für den Einzelnen nur schwer kalkulierbar. Erstens hänge sie von der Versorgungsart ab, zweitens sei die Pflegedauer schwer abzuschätzen und drittens basiere die Höhe des Eigenanteils auch darauf, welche Kosten die Pflegeversicherung übernehme. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich nur die Wenigsten tatsächlich gegen diese Unwägbarkeiten absichern. So hatten im Jahr 2018 nur 2,8 Millionen Bundesbürger eine private Pflegezusatzversicherung. Folglich stelle sich die Frage, wie viele Bundesbürger ein ausreichendes Vermögen besitzen, um im Pflegefall nicht auf die Unterstützung durch Angehörige oder den Staat angewiesen zu sein. Doch darüber sei bislang nur wenig bekannt. Deshalb hat das IW die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) analysiert. Gewählt wurde das Jahr 2017, weil das SOEP in diesem Jahr zum vorerst letzten Mal regulär sowohl die Einkommen als auch die Vermögen abgefragt habe, begründen die Autoren.

Konkret gehe es in dieser Analyse darum, die Vermögensdaten der Haushalte mit den 2017er Eigenanteilen in der vollstationären Dauerpflege zu vergleichen. Eine Besonderheit: Bei Rentnerhaushalten werde neben dem Vermögen auch das Einkommen berücksichtigt. Denn während bei ihnen die Höhe der Renten oder anderer Alterseinkommen im Pflegefall nicht beeinträchtigt werde, brächen bei den Beschäftigten im Fall der Fälle die Erwerbseinkommen weg.

Als Vermögen gälten die Nettovermögen der Haushalte, also Finanzvermögen wie Bargeld und Aktien sowie Vermögenswerte wie Immobilien abzüglich Verbindlichkeiten wie Darlehen und Hypotheken. Außerdem werde in der IW-Rechnung jedem Haushaltsmitglied ein Schonvermögen von einmalig 5.000 Euro zugesprochen, wie es in der Sozialhilfe Praxis sei. Die Einkommen seien, so die Autoren, definiert als Haushaltsnettoeinkommen, also Arbeits- und Kapitaleinkommen aller Haushaltsmitglieder einschließlich privater und öffentlicher Transfers wie Kindergeld und Rente abzüglich Steuern und Sozialabgaben. Würden die Kosten der vollstationären Pflege den Nettovermögen gegenübergestellt, dann zeige sich für das Jahr 2017, dass rund 41 Prozent aller Haushalte nicht in der Lage gewesen wären, ein Jahr stationäre Pflege eines Haushaltsmitglieds aus ihrem Vermögen zu finanzieren – bei fünf Jahren Pflege hätten sogar 59 Prozent passen müssen.

Aufschlussreich sei auch die Unterscheidung nach Altersgruppen – wobei hier unterstellt wird, dass alle Haushalte noch kein pflegebedürftiges Mitglied hatten. Der Grund: Haushalte mit pflegebedürftigen Mitgliedern haben eventuell bereits Teile ihres Vermögens für die Pflege aufgewendet, sodass ihnen zum Zeitpunkt der Analyse weniger Geld zur Finanzierung weiterer Pflegejahre zur Verfügung gestanden hätte.Von den 40- bis 65-Jährigen hätten 2017 rund 35 Prozent die stationäre Pflege für ein Jahr nicht aus ihrem Vermögen finanzieren können. Ab vier Jahren Pflegedauer, so zeigen die Ergebnisse, ist mehr als die Hälfte dieser Haushalte finanziell überfordert.

Nimmt man die Rentnerhaushalte in den Blick und betrachtet deren Vermögen, schneiden die älteren Generationen besser ab als die jüngeren – nur rund ein Drittel der über 65-Jährigen kann sich eine einjährige Pflege nicht leisten. Das sei jedoch nicht überraschend, da das Vermögen in der Regel mit dem Alter ansteige. Berücksichtige man zusätzlich das Einkommen eines potenziell pflegebedürftigen Rentners, werde der finanzielle Vorteil noch größer: Fast 72 Prozent dieser Haushalte könnten einen Pflegeaufenthalt von einem Jahr privat finanzieren – für gut zwei Drittel seien auch fünf Jahre kein Problem.

Das Fazit der Autoren: Die meisten Haushalte könnten die Kosten der stationären Pflege eine Zeit lang tragen. Je länger der Aufenthalt jedoch dauert, desto mehr seien finanziell überlastet. Eine lange Pflegedauer sei, so analysieren die Studienautoren, aber nicht unwahrscheinlich – rund die Hälfte der Fälle dauert länger als ein Jahr, knapp ein Viertel der Betroffenen sei länger als vier Jahre in einer Pflegeeinrichtung. Gleichwohl widerlegten die Zahlen die pauschale Annahme, dass Pflegebedürftigkeit für den Großteil der Bundesbürger eine Armutsfalle ist – auch wenn diese Gefahr für einen Teil der Bevölkerung durchaus relevant sein kann.
Wichtig sei zudem die Feststellung, dass all diese Ergebnisse lediglich eine grobe Einschätzung der finanziellen Situation der Haushalte in Sachen Pflege seien. Denn die Zahlen bezögen, darauf weisen die Autoren hin, sich ausschließlich auf die stationäre Pflege – man müsse jedoch davon ausgehen, dass viele Menschen vor ihrem stationären Aufenthalt bereits ambulant gepflegt worden seien. In diesen Fällen seien eventuell bereits Teile des Vermögens und Einkommens aufgewendet worden, sodass sich der Anteil jener Haushalte, die sich die stationäre Pflege nicht leisten könnten, tendenziell noch erhöhe.

Außerdem wurde unterstellt, dass in jedem Haushalt nur ein Mitglied stationär gepflegt werden muss – in der Praxis kämen aber auch mehrere Pflegefälle in einem Haushalt vor, was zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung führe. Und schließlich wurde bei den Pflegekosten der bundesweite Durchschnitt zugrunde gelegt, regional könnten die Kosten jedoch sehr viel höher liegen. <<

Ausgabe 03 / 2020