Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2020 Wie viel Pflege braucht das Land?

Wie viel Pflege braucht das Land?

12.10.2020 11:45
Gute Pflegequalität braucht ausreichendes und qualifiziertes Personal, da sind sich die Experten einig. Bisher war aber weder bekannt, welche Personalmengen bedarfsnotwendig sind, noch welcher Mix aus Pflegefach- und -assistenzkräften zur fachgerechten Versorgung erforderlich ist. Mit dem am 23.09.2020 veröffentlichten Abschlussbericht zur Personalbemessung in der Langzeitpflege des Forscherteams der Universität Bremen, unter der Leitung von Prof. Dr. Heinz Rothgang, sei das Personalbemessungsinstrument nun bereit für eine gestufte Einführung, erklären die Autoren. Auch für die ambulante Pflege liegen Erkenntnisse vor.

>> Das Team um Rothgang hatte zur Klärung dieser Fragen im Jahre 2017 einen Entwicklungsauftrag der deutschen Pflegeselbstverwaltung erhalten. Ziel war es, ein bundesweit einheitliches Verfahren zur Bemessung von Pflegepersonal wissenschaftlich fundiert zu entwickeln. Die Wissenschaftler empfehlen, zur weiteren fachgerechten Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs deutlich mehr Assistenzkräfte einzusetzen und die Aufgabenverteilung innerhalb einer Pflegeeinrichtung qualifikationsorientiert neu zu strukturieren.
Der Abschlussbericht zur Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur bundesweit einheitlichen Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen wurde den Vertragsparteien in der Pflege auf Bundesebene im Einvernehmen mit den Bundesministerien für Gesundheit und für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgelegt, wie es in einer gemeinsamen Pressemitteilung von GKV-Spitzenverband, bpa und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. heißt.

Die Bedarfe im ambulanten Bereich hatte Prof. Dr. Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück in einem weiteren Teil der Studie untersucht. Die Universität Bremen schlägt vor, das neue Personalbemessungsverfahren für den stationären Bereich zunächst in ausgewählten Einrichtungen zu erproben und parallel mit einer stufenweisen Einführung in der vollstationären Langzeitpflege zu beginnen.

Die „starre Quotenwirtschaft“ ablösen

„Die Ergebnisse des Projektes zeigen, dass wir die Personalbemessung und die Personalqualifikation sehr viel stärker nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit differenzieren können. Wir werden zu einem neuen Personalmix kommen, der dem Bedarf der pflegebedürftigen Menschen gerecht wird und die heutige starre Quotenwirtschaft ablöst“, kommentiert Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa).

Das nun entwickelte Instrument berücksichtige bei der Personalbemessung nicht nur den heutigen Bedarf, sondern nehme auch künftige fachliche Entwicklungen in der Pflege in den Blick. „Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff muss gelebter Alltag werden. Mit einer einheitlichen Vorgabe, die dennoch die Bewohnerstruktur und die individuell notwendigen pflegerischen Leistungen berücksichtigt, gehen wir einen weiteren großen Schritt in Richtung ‚Pflege der Zukunft‘“, so Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes.

Der Abschlussbericht enthält Anregungen für die modellhafte Einführung des neuen Personalbemessungsinstrumentes, mit der insbesondere die notwendigen Personalentwicklungsprozesse und organisationsbezogenen Umstrukturierungen geprüft werden sollen.

„Mit zusätzlichem Personal werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Langzeitpflege entlastet, was mehr Arbeitszufriedenheit schaffen und die Attraktivität des Berufes steigern wird. Damit kann es auch gelingen, zusätzliche Kräfte zu gewinnen oder bereits aus dem Beruf ausgestiegene Pflegekräfte zu einer Rückkehr zu motivieren, um die neu entstehenden Stellen zu besetzen“, sagt die Präsidentin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW), Gerda Hasselfeldt.

Auf den Bereich der ambulanten Pflege ließen sich die Vorschläge jedoch nicht einfach übertragen. Dies sei nach dem Abschlussbericht von Prof. Dr. Andreas Büscher u.a. auf die individuell vereinbarten Leistungsinhalte und Umfänge der pflegebedürftigen Menschen mit dem ambulanten Pflegedienst zurückzuführen. Gleichwohl werde auch für den ambulanten Sektor ein erheblicher Personalbedarf konstatiert. Hierzu zeige der Bericht weiteren Forschungs- und Entwicklungsbedarf auf.

Die Politik ist gefragt

Die Empfehlungen der Wissenschaftler wollen eine Orientierung für weitere Entscheidungen der Bundesregierung und der Partner der Pflegeselbstverwaltung bieten. Für die konkrete Neugestaltung der Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege seien weitere gesetzliche Regelungen notwendig, die unter Berücksichtigung der Vorschläge aus dem nun vorliegenden Abschlussbericht gestaltet werden könnten.
Das Bundeskabinett hat ebenfalls am 23.09. den Entwurf zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege (GPVG) verabschiedet, welches 20.000 neue Assistenzstellen in der Altenpflege finanzieren soll – und trägt damit partiell den Forderungen der oben genannten Studie Rechnung. Denn die Ergebnisse des Projekts zur wissenschaftlichen Bemessung des Personalbedarfs zeigten, dass in vollstationären Pflegeeinrichtungen zukünftig insbesondere mehr Pflegehilfskräfte erforderlich sind. Diese zusätzlichen Stellen seien ein erster Schritt in Richtung eines verbindlichen Personalbemessungsverfahrens für vollstationäre Pflegeeinrichtungen, heißt es in einer Pressemitteilung aus dem Bundesgesundheitsministerium.

„In der Pflege zu arbeiten wird wieder attraktiver, wenn mehr Kolleginnen und Kollegen mit anpacken. Deswegen finanzieren wir 20.000 neue Assistenzstellen in der Altenpflege, jedes Pflegeheim in Deutschland profitiert davon. Das ist ein weiterer wichtiger Baustein, um Pflegekräfte zu entlasten. Gleichzeitig stellen wir sicher, dass die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen für das zusätzliche Personal nicht mehr bezahlen müssen“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Die wichtigsten Regelungen im Überblick:
• In der vollstationären Altenpflege sollen 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte finanziert werden. Der Eigenanteil der Pflegebedürftigen soll dadurch nicht steigen, die Stellen würden vollständig durch die Pflegeversicherung finanziert.
Parallel dazu werde auch – wie in der Konzertierten Aktion Pflege vereinbart – der Roadmap-Prozess zur Vorbereitung der Einführung des Personalbemessungsverfahrens wieder aufgenommen.
Die während der Pandemie getroffen Regelungen zur Verwendbarkeit des Entlastungsbetrags sowie zum Pflegeunterstützungsgeld sollen über den 30. September bis zum 31. Dezember 2020 verlängert werden. Noch nicht verbrauchte Leistungsbeträge aus dem Jahr 2019 könnten weiter verwendet werden und Arbeitstage, die im Geltungszeitraum der pandemiebedingten Sonderregelungen in Anspruch genommen worden sind, würden nicht die regulären Ansprüche auf Pflegeunterstützungsgeld von bis zu insgesamt zehn Arbeitstagen je Pflegebedürftigen angerechnet.
Das Recht, im Rahmen einer kurzzeitigen Arbeitsverhinderung nach dem Pflegezeitgesetz der Arbeit fernzubleiben, soll in unverändertem zeitlichem Umfang erhalten bleiben.

Auch für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen soll es Verbesserungen geben: Die bisher befristete Regelung, nach der im Rahmen der Pflegebegutachtung empfohlene Hilfsmittel automatisch – auch ohne ärztliche Verordnung – als beantragt galten, habe sich in der Praxis bewährt. Das Verfahren soll daher ab dem kommenden Jahr auf Dauer gelten. Der Arbeitgeberverband bpa begrüßt diese Maßnahme. Sie stelle einen deutlichen Beitrag zur Verfahrensvereinfachung für die pflegebedürftigen Menschen dar und beschleunige die Versorgung mit notwendigen Hilfsmitteln. Es sei daher folgerichtig, die bisher befristete Ausnahme zum Regelfall umzugestalten.

"Angespannte Situation in der stationären Langzeitpflege wird nicht gelöst"

Die Finanzierung der 20.000 zusätzlichen Assistenzkräfte wird vom bpa als Entlastungsmaßnahme der Fachkräfte in den Pflegeheimen begrüßt. Das tut der Verband der Ersatzkassen ebenfalls. „Die Kosten hierfür werden ausschließlich durch die Pflegeversicherung übernommen. Der vdek bewertet es positiv, dass dadurch die Pflegebedürftigen nicht weiter belastet werden. „Allerdings sollte anstatt des vorgesehenen Antrags- und Auszahlungsverfahrens, das sich offensichtlich am laufenden Pflegeförderstellenprogramm für die 13.000 zusätzlichen Pflegekräfte orientiert, die Finanzierung der zusätzlichen Stellen bürokratiearm über eine Zuschlagsregelung erfolgen, analog des etablierten Verfahrens für die zusätzlichen Betreuungskräfte“, fordert der Verband in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf. Laut Kabinettsentwurf soll die Finanzierung nun als Vergütungszuschlagsregelungen nach den §§ 84 und 85 SGB XI kommen.

Prof. Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, übt Kritik: „Mit der Einstellung von 20.000 Hilfskräften ohne qualifizierte Ausbildung wird die äußerst angespannte Situation in der stationären Langzeitpflege nicht gelöst. Aus diesen Überlegungen spricht ein falsches Verständnis von guter Versorgung. Bei guter Pflege geht es darum, die Bedürfnisse der Menschen zu erkennen und die Versorgung entsprechend zu planen.“ Und das müsse man können. Hier scheine man wieder nur einzelne Tätigkeiten, die irgendwer verrichten solle, im Kopf gehabt zu haben.“

Einen Personalmix mit unterschiedlich qualifizierten Pflegenden und Betreuenden begrüßt der DBfK, weist aber darauf hin, dass der Pflegeprozess von Pflegefachpersonen geplant, koordiniert und begleitet werden muss. Wenn nicht einmal mehr 50 Prozent der Beschäftigten in einer Einrichtung qualifizierte Pflegefachpersonen seien, könne aus Sicht des DBfK der Versorgungsbedarf bei einer guten Qualität nicht sichergestellt werden.
„Je mehr unterschiedlich qualifiziertes Personal eingesetzt wird, desto höher ist der Bedarf an Anleitung und Steuerung. Und dies kann nur von qualifizierten Pflegefachpersonen geleistet werden, da nur sie die Kompetenz zur Beratung, Bedarfsfeststellung und zur Anleitung haben“, erläutert Bienstein.
Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates und soll voraussichtlich im Januar 2021 in Kraft treten. <<

Ausgabe 03 / 2020