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Belastende Versorgungsdefizite

12.03.2024 18:20
„Insbesondere chronisch Kranke und Pflegebedürftige werden oft weder ambulant noch stationär bestmöglich versorgt. Um das zu ändern, brauchen wir dringend neue, effizientere Versorgungsstrukturen. Das können zum Beispiel wohnortnahe, sektorenübergreifende Versorgungseinrichtungen sein“, sagte Prof. Dr. med. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, bei der Vorstellung des Pflegereports 2023 Anfang Dezember in Berlin. Der aktuelle Report macht deutlich, dass bis zu 1,3 Millionen Krankenhausaufenthalte bei Pflegebedürftigen jährlich potenziell vermeidbar wären, wenn Patientinnen und Patienten besser versorgt würden. Dafür müsste allerdings ihr individueller pflegerischer und medizinischer Bedarf stärker berücksichtigt werden.

Dem Pflegereport zufolge waren zwischen den Jahren 2017 und 2022 monatlich im Schnitt rund 280.000 pflegebedürftige und kurz vor der Pflegebedürftigkeit stehende Patienten in einer Krankenhausbehandlung. Dabei handelte es sich häufig um ambulant-sensitive oder Pflegeheim-sensitive Fälle, die unter besseren medizinischen Bedingungen von der Hausarztpraxis oder im Pflegeheim behandelt werden können.

Dazu zählen Herzinsuffizienz mit monatlich rund 15.900 Krankenhausfällen und Diabetes mellitus Typ 2 mit etwa 4.000 Fällen. Die Betroffenen benötigten frühzeitig eine individuelle und damit passgenaue Behandlung. Doch die Daten des Pflegereports zeigen, dass Millionen von Patientinnen und Patienten unter Versorgungsdefiziten leiden. Sektorenübergreifende Einrichtungen könnten verschiedene Gesundheitsberufe, Arztpraxen und Pflegedienste vereinen. Vor allem die Menschen in dünn besiedelten Gebieten könnten wohnortnah effizienter versorgt werden.

Je besser dies gelinge, desto eher könnten stationäre Aufenthalte vermieden werden. Hier bestehe dringender Handlungsbedarf, so  der Barmer-Chef und verwies in seinen weiteren Ausführungen darauf, dass diese vorgeschlagene Lösung der sektorenübergreifenden Einrichtungen zwar eine wichtige Stellschraube sei, um die Versorgung zu verbessern, aber auch nicht die einzige.

Entsprechend lautete seine Forderung: „Zunächst einmal sollten Bund, Länder und Kommunen die Angehörigen Pflegebedürftiger noch stärker unterstützen.“ Denn sie seien die wichtigste Stütze der Langzeitpflege. Zudem fühlten sich die Betroffenen im häuslichen Umfeld am wohlsten. „Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, pflegende Angehörige weiter zu unterstützen, zu qualifizieren und anzuleiten“, hob Straub hervor.

Doch auch an dieser Stelle schränkte der Barmer-Chef seine Aussage wieder ein, denn klar sei auch, dass Angehörige die Pflege nicht immer in Gänze übernehmen könnten – was aufgrund der hohen Anzahl Pflegebedürftiger nicht möglich sei, wie die Ergebnisse des aktuellen Pflegereports verdeutlichten. „Knapp ein Viertel der Krankenhauspatienten war demnach im vergangenen Jahr vor der Aufnahme in die Klinik pflegebedürftig“, berichtete Straub. „Rund 275.000 Menschen beziehungsweise 1,9 Prozent der Krankenhausfälle wurden dies unmittelbar im Anschluss an die stationäre Behandlung.“ Eine Lösung, um eine bessere Versorgung zu gewährleisten, könnte darin liegen, dass die Kliniken die Kranken- und Pflegekassen regelhaft über die Entlassung eines Patienten informieren, schlug Straub vor. „Möglich wäre dies im Rahmen des digitalen Datenaustauschs.“

Auch das Thema Kurzzeitpflege spiele gerade auch bei neu Pflegebedürftigen eine wichtige Rolle. Sie helfe nicht nur dabei, die Zeit bis zum Wechsel in eine stationäre Pflege zu überbrücken, sondern könne darüber hinaus den Angehörigen die nötige Zeit verschaffen, die dauerhafte Pflege zu Hause entsprechend vorzubereiten und zu organisieren. Auch in dem Kontext appelierte der Barmer-Chef an die Verantwortung der Bundesländer, den Ausbau der Kurzzeitpflege stärker zu fördern.

Effizienterer Einsatz der vorhandenen Ressourcen
Zum Schluss seiner Ausführungen betonte Straub, dass auch die besten Strukturen das grundsätzliche Problem der Pflege nicht lösen könnten, nämlich den Fachkräftemangel, der sich in Deutschland seit vielen Jahren auch in der Pflege bemerkbar mache. „Bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld allein werden diesen Mangel nicht beheben“, so Straubs Überzeugung. Der Pflegeberuf müsse vielmehr nachhaltig aufgewertet werden. Gut ausgebildete Pflegekräfte könnten ärztliche Leistungen übernehmen, wo es sinnvoll und möglich sei. Und Straub weiter: „Angesichts des Personalmangels müssen vorhandene Ressourcen effizienter eingesetzt werden.“

Weitere Ergebnisse des Reports mit dem Schwerpunktkapitel „Krankenhausversorgung von Pflegebedürftigen und deren Folgen für den weiteren Pflegeverlauf“ präsentierte Studienautor Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Nach den Hochrechnungen der Barmer-Daten sind im Jahr 2022 rund 276.000 Personen im Monat einer Krankenhausaufnahme pflegebedürftig geworden.

Die Zahl der Krankenhausfälle prävalent Pflegebedürftiger lag bei 3,45 Millionen im Jahr 2022. Zusammengenommen sei jeder vierte Krankenhausfall im Jahr 2022 durch eine inzident oder prävalent pflegebedürftige Person verursacht. Im Jahr 2022 sind laut Report insgesamt 1,11 Millionen Menschen pflegebedürftig geworden. „Somit ist im Jahr 2022 jede vierte Pflegeinzidenz mit einem Krankenhausaufenthalt verbunden“, stellte Rothgang fest.

Dabei sei ein Teil der Krankenhausbehandlungen durchaus vermeidbar. Zwei Gruppen von Experten haben sich nach den Ausführungen von Rothgang damit beschäftigt und im Konsens anhand von Entlassungsdiagnosen ambulant-sensitive (ASK) bzw. Pflegeheim-sensitive (PSK) Krankenhausfälle definiert, bei denen unterstellt werden könne, dass sie bei entsprechender Versorgung hätten vermieden werden können.

„Werden diese Definitionen zugrunde gelegt und die entsprechenden Diagnosen ausgezählt, zeigt sich, dass die Zahl der ambulant-sensitiven Krankenhausfälle von Pflegebedürftigen von 0,89 Millionen im Jahr 2017 auf 1,07 Millionen im Jahr 2022 gestiegen ist, und die Zahl der Pflegeheim-sensitiven Krankenhausfälle sogar von 1,14 Millionen auf 1,31 Millionen angewachsen ist“, fasste Rothgang die Ergebnisse zusammen. „Somit ist inzwischen jeder vierte Krankenhausfall von pflegebedürftigen Personen ein potenziell vermeidbarer Krankenhausfall.“ Besonders häufige Diagnosen, die sowohl zu den ASK als auch zur den PSK gezählt würden und zudem überproportional häufig bei Pflegebedürftigen Anlass des Krankenhausaufenthalts waren, seien Diabetes mellitus Typ 2 (ICD-Code E11), Volumenmangel (ICD-Code E86), Herzinsuffizienz (ICD-Code I50), sonstige chronische obstruktive Lungenkrankheit (ICD- Code J44) und sonstige Krankheiten des Harnsystems (ICD-Code N39).

„Wer nach einem Krankenhausaufenthalt pflegebedürftig wird, liegt zuvor länger in der Klinik. Im Vergleich zu nicht pflegebedürftigen Patienten sind das durchschnittlich 3,4 Tage mehr. Das liegt insbesondere an der Schwere der Grunderkrankung“, sagte Rothgang. Auch wer bereits pflegebedürftig ins Krankenhaus komme, müsse dort mit bis 2,7 Tagen mehr rechnen. Ein weiterer Faktor für eine verzögerte Entlassung aus der Klinik sei, dass die Pflege zuhause oft erst organisiert werden müsse. Der stationäre Aufenthalt verlängere sich sogar um mehr als sechs Tage, wenn ihm eine Kurzzeitpflege folge. Rothgang resümierte: „Krankenhausaufenthalte verlängern sich deutlich, wenn die Pflege danach erst organisiert werden muss. Deshalb ist die Kurzzeitpflege so wichtig. Sie hilft insbesondere dabei, die Zeit bis zum Wechsel in ein Arrangement mit einem höheren Anteil formeller Pflege zu überbrücken.“