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Wider den Frustpegel

09.04.2024 19:15
Am 2. Februar hat der Bundesrat eine Entschließung gefasst, um die Leiharbeit in der Pflege zu reduzieren. In zehn Punkten wird der Verbesserungsbedarf aufgezeigt und Maßnahmen zur Abhilfe vorgeschlagen; diese wurden der Bundesregierung übersandt. Während die Politik seit mehreren Jahren Lösungen diskutiert, haben die Kliniken Beelitz das Heft selbst in die Hand genommen und sind aus dem Leasing-System ausgestiegen. „Mit der Entscheidung haben wir ein kleines Erdbeben hier in der Region ausgelöst“, erklärt Enrico Ukrow, Geschäftsführer der Kliniken Beelitz, die Teil des Recura Klinik Verbundes sind. Wie das Unternehmen dabei vorgegangen ist und welche Herausforderungen zu bewältigen sind, erklären Pflegedirektor Nico Kleine-Knefelkamp und Enrico Ukrow.

Wie sind die Kliniken Beelitz zu dem Entschluss gekommen aus dem Leasing-Modell auszusteigen?
Enrico Ukrow: Für diese Entscheidung muss man zwei Ebenen betrachten: Zum einen die finanzielle beziehungsweise kaufmännische Seite. Diese war allerdings nicht das hauptausschlaggebende Argument, sondern im Vordergrund stand die Sorge um die Akzeptanz und Mitnahme der Mitarbeitenden bei diesem Projekt.

Nico Kleine-Knefelkamp: Tatsächlich kam der Anstoß dazu, aktiv mit dieser Idee auf die Geschäftsführung zuzugehen, von den Stationsleitungen. Die Stationen der Neurologischen Fachkliniken hier am Standort Beelitz-Heilstätten trugen an uns heran, dass deren Mitarbeitende beim Thema permanente Einarbeitung neuer Leasing-Kollegen zunehmend unzufrieden wurden.
Denn dort wurde sehr viel Zeit investiert, die nicht im Verhältnis zur praktischen Einsatzdauer der Leasing-Kräfte stand. Hinzu kam, dass vorhandene Leasing-Kräfte auch aktiv für ihren Arbeitgeber geworben haben und uns – zum Teil sehr erfolgreich – unsere Mitarbeiter abgeworben haben. Am Ende mussten wir zudem teilweise das nehmen, was wir von den Leasing-Firmen an Personal bekamen. Da wurden seitens der Arbeitnehmerüberlassung manchmal Qualifikationen und berufliche Erfahrungen suggeriert, die nicht den Tatsachen entsprachen.

Wie meinen Sie das?
Kleine-Knefelkamp: Ein Beispiel: Vermittelt wurde uns eine Pflegefachkraft mit „ausgezeichneter Erfahrung im Umgang mit intensivpflichtigen Patienten und versierten Fähigkeiten in der Pflege beatmungspflichtiger Patienten“. Im tagesaktuellen Pflegegeschehen auf der Station stellte sich jedoch die Frage, wie lange die Pflegefachkraft denn bereits ihren Abschluss habe. Die Antwort war: „Seit zwei Monaten.“ Das passt nicht! Nur weil jemand ein Praktikum auf der Intensivstation gemacht hat zu sagen, diese sei „versierte Pflegefachkraft“ in dem Sektor, ist ungeheuerlich.

Hat man da eine Handhabe gegen die LeasingFirma?
Kleine-Knefelkamp: Nein, wir haben einmal versucht aus dem Vertrag auszusteigen, das war aber erfolglos. Auch wenn die Kolleginnen oder Kollegen, die per Arbeitnehmerüberlassung gebucht wurden, krank sind, oder gekündigt haben, ist die Firma nicht verpflichtet, einen Ersatz zu schicken. Dann mussten unsere Leute wieder einspringen, deren Motivation nachvollziehbarerweise sehr gering war.
2011 hatte ich das erste Mal Berührung mit der Buchung von Leasing-Kräften, da war es noch so, dass der Bedarf abgefragt wurde und dieser von der Leasingfirma personell bedient wurde. In den letzten zwei Jahren ist die Entwicklung dahin gegangen, dass wir die Kapazitäten der Firma gemeldet bekamen, sprich die Wünsche der Leasing-Kräfte, und entweder wir haben sie ihrem Wunsch gemäß eingesetzt oder sie sind woanders hingegangen. Wir mussten unsere Kolleginnen und Kollegen drumherum bauen, was natürlich dazu geführt hat, dass unsere Belegschaft sich mit den unbeliebten Diensten abfinden musste. Das schürt Unmut.

Ukrow: Der zweite gewichtige Punkt ist die fehlende Identifikation mit dem Unternehmen. Wir sind selbstverständlich nicht deren Arbeitgeber, aber so nach zwei, fünf oder acht Monaten kann man ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl doch erwarten. Im Gegenzug muss man sagen, dass wir auch wirklich tolle, individuelle Leasing-Kräfte hatten, die wir gerne dauerhaft an uns binden würden, aber das Problem ist eben das Leasingmodell im Krankenhaus an sich.

Und wie war die Bewertung auf der kaufmännischen Ebene?
Ukrow: Auf der kaufmännischen Ebene hatten wir schon lange die explodierenden Leasingkosten im Blick. Zum Teil mussten wir für Leasing-Kräfte – manchmal ohne entsprechende Qualifikation – 80 Euro pro Stunde bezahlen. Das waren zwar Spitzen; im Durchschnitt lagen wir in den letzten Wochen bei 60 bis 65 Euro pro Stunde pro Fachkraft, was so nicht tragbar ist. Hinzu kommt die Umsatzsteuer und wir standen vor der Herausforderung, dass wir die vollen Leasingkosten nicht mehr zu 100 % von der Krankenkasse im Rahmen des Pflegebudgets refinanziert bekommen. Der Deckel liegt ja in der Regel bei normalen Tarifabschlüssen im Krankenhaus. Und mit den Spitzen Richtung 80 Euro standen wir vor dem Problem, dass wir das mit den Kassen so nicht mehr verhandelt bekommen.

Gibt es weitere Gründe?
Ukrow: Ein weiterer Aspekt ist, dass die Leasing-Kräfte sofort bezahlt werden müssen. Das heißt, wenn die zuständige Arbeitnehmerüberlassungsfirma die Rechnung stellt, müssen Sie innerhalb von 14 Tagen ausgleichen. Und zwar wie gesagt einen Betrag, von dem man nicht weiß, wie viel man refinanziert bekommt. Die Verhandlungen mit den Krankenkassen haben dahingehend noch nicht stattgefunden. Aber von einer 100-Prozent-Deckung ist nicht auszugehen.

Kleine-Knefelkamp: Ich möchte ergänzen, welch gigantischer administrativer Aufwand das Leasing mit sich bringt: Rechnungsprüfung, Rechnungsfreigabe, 4-Augen-Prinzip, Personaleinsatzplanung, Umshiften und die Kommunikation aus der Pflegedirektion heraus mit den Leasing-Kräften und Firmen. Teilweise mussten wir auch Wohnraum für die Kräfte vorhalten. Das bindet unglaubliche Ressourcen.

Von welcher Größenordnung reden wir denn in Sachen Personalkosten für Leasing-Kräfte?
Ukrow: In den Planungen für 2023 mussten wir in den Hochrechnungen unterjährig eine Größenordnung zwischen 3,5 und 4 Millionen Euro für Leasing-Aufwendungen einplanen. Das war der Stein des Anstoßes über das Modell an sich nachzudenken – und zeitgleich kam der Hinweis von der Pflegedirektion über die Systemwechselbereitschaft der Mitarbeitenden, was wir zum Anlass genommen haben im Rahmen der Wirtschaftsplanung für 2024 unterschiedliche Szenarien zu rechnen.
Ergebnis war: Wenn wir den Schritt wagen, Leasing-Kräfte aus unserem System herauszunehmen, bedeutet das unterm Strich zwar Umsatzeinbußen, sprich Erlöseinbußen, weil wir die Bettensituation in der Form nicht mehr aufrechterhalten können, aber mit kleineren Umsteuerungen innerhalb des Prozesses im Krankenhaus kann es uns gelingen, den Umsatzverlust nicht ganz aufzufangen, aber die Ergebnissituation einigermaßen aufrecht zu erhalten.

Wie war das weitere Vorgehen nach dieser betriebswirtschaftlichen Sondierung?
Ukrow: Mit diesen Szenarien sind wir in die Diskussion gegangen – wir müssen den Wirtschaftsplan vor unserem Konzern, der Recura Holding, letztlich verteidigen – sind dort jedoch auf offene Ohren gestoßen. Danach war es für uns nur noch ein kleiner Schritt in die Umsetzung zu gehen und so sind wir zum 1. Januar dieses Jahres damit gestartet. Mit der Anpassung der Belegungssituation mussten wir natürlich einige Monate vorher beginnen, denn 15 bis 20 Betten lassen sich nicht von jetzt auf gleich abbauen. Unsere Klientel hat eine längere Verweildauer, als man das von normalen Akut-Häusern kennt. Wir reden hier von 40 bis 60 Tagen, insofern muss das entsprechend vorbereitet sein. Und die ersten Tage in 2024 sehen gut aus. Die Belegungskapazitäten, die wir vorgegeben haben, können wir halten.

Also ist auch die Bereitschaft der Mitarbeitenden hoch beziehungsweise nun höher, im Krankheitsfall einzuspringen?
Kleine-Knefelkamp: Genauso ist es. Die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden ist viel höher, wenn man die eigenen Leute vertritt. Wenn wir jemanden ersetzen mussten, der bei uns keinen Arbeitsvertrag hat, ist die Motivation einfach geringer.

Wo sehen Sie denn jetzt herausfordernde Aspekte?
Kleine-Knefelkamp: Einige Mitarbeitende haben daran gezweifelt, dass wir das neue Konzept auch wirklich umsetzen. Diesen Vorbehalt konnten wir aber entkräften und sind damit letzten November live gegangen. Wir haben eine Dienstvereinbarung darüber, den Dienstplan 12 Wochen im Voraus zu schreiben und die Personaleinsatzplanung muss aus dem Team heraus – ohne Leasing-Kräfte – an die reduzierte Bettensituation angepasst werden.
Ich habe zwischen den Feiertagen von den Stationen die Rückmeldung bekommen, dass die Kolleginnen und Kollegen sehr kooperativ und wohlwollend dem System gegenüberstehen und die Dienstpläne im kollegialen Austausch ändern, damit die Patientenversorgung gesichert ist. Das spricht für diese Entscheidung. Aber die nächsten Monate werden spannend: Wir müssen das System etablieren und wir stehen mit dem Projekt unter Beobachtung – intern wie extern.

Sehen Sie die Gefahr, dass das System kippt?
Kleine-Knefelkamp: Corona zum Jahreswechsel war die erste Nagelprobe. Da hatten wir in der Belegschaft viele Ausfälle, die jedoch alle kompensiert werden konnten. Der Wunsch, ohne Leasing-Kräfte arbeiten zu können, ist groß. Das ist die beste Voraussetzung. Und die möglichen negativen Aspekte betrachte ich erst einmal aus der Ferne.

Ukrow: Wir haben im Herbst bereits damit begonnen, unsere Dienstvergütung anzuheben, um den Prozess zu initiieren und die Kollegen zu motivieren, auch ausgefallene Dienste innerhalb des Springerpools zu übernehmen. Das hatte den gewünschten positiven Effekt; und das Geld bleibt im System Kliniken Beelitz. Auch andere Angebote wie zum Beispiel Schichturlaub sind jetzt möglich, da wir externe Leasing-Kräfte nicht an solchen Maßnahmen beteiligen müssen.

Sie blicken also positiv gestimmt in die Zukunft.
Ukrow: Unbedingt. Es gab eine intensive thematische Auseinandersetzung mit dem Betriebsrat, bei der wir letztlich zu einem guten Ergebnis kamen. Das Modell eröffnet natürlich auch die Möglichkeit, dass sich Leasing-Kräfte aus der Region unter diesen Bedingungen für eine dauerhafte Anstellung bei uns bewerben. Die sparen sich nämlich mitunter eine lange Fahrzeit nach Berlin. Wir konnten erst kürzlich zwei ehemalige Leasing-Kräfte einstellen und die haben bestätigt, dass uns deren Kolleginnen und Kollegen im Blick haben.
Auch wenn das Wort „Wertschätzung“ im Pflegekontext manchmal überstrapaziert wird, ist das für uns ein ganz wichtiger Aspekt für diesen Systemwechsel, der uns hoffentlich auch ein weiter wachsendes Vertrauen der Belegschaft entgegenbringt.

Ausgabe 01 / 2024