Sie sind hier: Startseite News Wie viele Ärzte braucht das Land?

Wie viele Ärzte braucht das Land?

09.04.2015 12:12
In mehreren kürzlich erschienenen Studien beleuchten die Wissenschaftler des Versorgungsatlas die ambulante ärztliche Versorgung durch Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten in Deutschland. Jetzt werden diese Daten ergänzt durch Karten und Tabellen zur Darstellung der Arztzahlen oberhalb der sogenannten „Sperrgrenze“. In gesperrten Planungsregionen sollen Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen nach den Plänen der Bundesregierung künftig prüfen, ob Praxen bei der Abgabe durch den bisherigen Inhaber stillgelegt werden können. Die Berechnungsgrundlage hierfür – eine in den 1990er Jahren eingefrorene Verhältniszahl – gehört nach Meinung von Experten aber auf den Prüfstand, da sie den heutigen Versorgungsbedarf nur unvollständig berücksichtigt.

Im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern kümmern sich im Schnitt 68 Hausärzte um 100.000 Einwohner, ähnlich wie in Bayern oder in den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin. In Nordrhein-Westfalen stehen dagegen 60 Hausärzte pro 100.000 Einwohner zur Verfügung, was etwa dem Bundesdurchschnitt entspricht. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland wiederum liegen leicht darüber. Das zeigt eine der vielen Karten zur neuen Untersuchung des Versorgungsatlas „Vertragsärzte und -psychotherapeuten je 100.000 Einwohner in 2013“.

Auf Ebene der Bundesländer oder Kassenärztlichen Vereinigungen vermitteln die Zahlen nur eine grobe Übersicht. Den neuen Untersuchungen liegen – entsprechend der aktuellen Bedarfsplanung – darum zum Beispiel die sogenannten Mittelbereiche zugrunde: Hier sind Regionen abgebildet, in denen ein zentraler Ort umliegende Gebiete mit abdeckt. Dann wird etwa sichtbar, dass auch in Bundesländern, in denen die Versorgungswerte im Mittel über dem Bundesdurchschnitt liegen, Regionen mit unterdurchschnittlicher Versorgung existieren.

Die Wissenschaftler vom Versorgungsatlas haben auch Daten ausgewertet, welche die Versorgung mit spezialisierten, sogenannten fachärztlichen Internisten, zeigen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Diabetologen, Gastroenterologen oder Kardiologen, die als „Internisten“ zusammengefasst nach Raumordnungsregionen geplant werden.

Insgesamt zeigen die Berechnungen, die auf den Daten des Bundesarztregisters der Kassenärztlichen Bundesvereinigung beruhen, dass sich die reale Versorgungssituation deutlich von den sogenannten Verhältniszahlen der Bedarfsplanung entfernt hat. Diese vorgegebenen Verhältniszahlen von Einwohnern und Ärzten stammen unverändert aus den 1990er Jahren und wurden seitdem eingefroren. Ihnen zufolge gilt eine Region beispielsweise mit Hausärzten zu 100 Prozent als versorgt, wenn die 1990 definierte Verhältniszahl von einem Hausarzt pro 1.671  Einwohner erfüllt ist. Seit der Überarbeitung der Richtlinie kann die Veränderung der demografischen Struktur der Bevölkerung, der Demografiefaktor, berücksichtigt werden, wobei auf Landesebene von der Richtlinie abgewichen werden kann.

„Um aber beurteilen zu können, ob tatsächlich eine Über- oder Unterversorgung vorliegt, müssen aus Sicht der Versorgungsforschung neben der Altersstruktur der Bevölkerung auch weitere Faktoren berücksichtigt werden: Dazu zählen z. B. die Verteilung und Häufigkeit von Erkrankungen (Morbiditätsstruktur) und die Sozialstruktur“, sagt Dr. Jörg Bätzing-Feigenbaum, der Leiter des Versorgungsatlas. Ebenso müsste die örtliche Arbeitsteilung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung berücksichtigt werden, um eine realistische Abbildung des Versorgungsbedarfes zu erhalten. „Wenn die Menschen in einer Region sehr häufig im Krankenhaus behandelt werden, gilt dies international als ein Zeichen dafür, dass in der ambulanten Versorgung Ärzte fehlen, welche die Einweisung hätten verhindern können,“ erklärt Dr. Dominik von Stillfried, Leiter des Zentralinstituts. „Darum sagt der ausgewiesene Versorgungsgrad wenig darüber aus, ob aufgrund des Versorgungsbedarfs vor Ort eine höhere oder niedrigere Arztzahl begründet wäre.“

Ein Forscherteam des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung simulierte in einem Worst-Case-Szenario auf Basis der neuen Daten auch die mögliche Auswirkung des geplanten Versorgungsstärkungsgesetzes auf die vertragsärztliche Versorgung: „Ärzte oberhalb der Sperrgrenze“. Das Gesetz sieht vor, dass ab einem Versorgungsgrad von 110 Prozent die Zulassungsausschüsse vor Ort prüfen und begründen, ob eine Praxis erneut besetzt werden kann. Wenn deren Erhalt nicht begründet werden kann – nicht zuletzt auch, weil aus der Sicht der Versorgungsforscher relevante Informationen fehlen – soll der Sitz von der jeweils zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung aufgekauft und geschlossen werden. Aufgrund der Altersstruktur der Ärzte – ein Viertel der Ärzte und Psychotherapeuten ist älter als 60 Jahre – stehen innerhalb der nächsten zwei Jahre schätzungsweise 10.000 Praxissitze zur Disposition. Nach den geltenden Verhältniszahlen wären z. B. rund 50 Prozent der fachinternistischen Arztsitze bei der Übergabe an einen Nachfolger in Frage gestellt. „Dies würde auf der Basis unzureichender Informationen zu erheblichen Veränderungen in der ambulanten Versorgung führen“, fürchtet von Stillfried.