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Untergrenzen als Innovationshemmnis?

21.01.2017 16:20
Zu einem differenzierten Ergebnis in Sachen Personaluntergrenzen kommt Professor Dr. Boris Augurzky, der als Studienleiter der Untersuchung „Die Zukunft der Pflege im Krankenhaus“ diese auf dem Gesundheitskongress des Westens 2017 im März in Köln vorstellte. Von der Techniker Krankenkasse 2016 in Auftrag gegeben, hat Augurzky als Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Zusammenarbeit mit der Uni Bielefeld und dem Institute für Health Care Business, in dem er als Geschäftsführer fungiert, eruiert, ob eine gute Ausstattung mit Pflegekräften die Qualität der Krankenhäuser verbessert. Das Ergebnis überrascht.

>> Vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion um dem zu geringen Einsatz von Pflegekräften, einer sinkenden Versorgungsqualität wie Patienten- und Arbeitszufriedenheit in der Pflege nach Einführung des DRG-Systems, wurde im Rahmen der Studie die These aufgestellt, dass eine Erhöhung der Zahl der Pflegekräfte zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit führt.
Augurzky legte drei Fragestellungen vor, denen die Studienautoren nachgegangen waren:

1. Wie hat sich die „pflegerelevante Leistungsmenge“ in den Jahren verändert?
2. Ist eine Verschlechterung der medizinischen Qualität oder der Patientenzufriedenheit erkennbar?
3. Würde mehr pflegerisches Personal die Qualität spürbar erhöhen?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, präsentierte der Studienleiter die Entwicklung der Anzahl des in Vollzeit tätigen Krankenhauspersonals insgesamt und fokussierte dabei die Zeitreihen ab 2002, die vor allem auch die Veränderungen ab 2004 mit Einführung des DRG-Systems abbilden. Hier wurde neben einem starken Aufbau im ärztlichen Dienst, ein Abbau von 3,4% der Vollzeitkräfte im Pflegedienst festgestellt.

Weniger Vollzeitkräfte je Belegungstag, Fall und Einwohner

Der anschließende internationale Vergleich der Anzahl an Pflegekräften in Vollzeit, ergab sowohl in der Betrachtung je Belegungstag, wie auch je Fall eine unterdurchschnittliche Ausstattung für Deutschland im Jahr 2010. An Japan, das bei der Analyse der Vollzeitkräfte im Pflegedienst je 1.000 Fälle im Jahr 2010 mit 47,9 Personen ganz vorne rangiert, kommt Deutschland mit 17,4 Kräften bei weitem nicht heran. Indessen verzeichnet Deutschland mit 4,2 Vollzeitpflegekräften im selben Jahr nur einen leicht unterdurchschnittlichen Wert je 1.000 Einwohner. Allen voran geht hier Norwegen mit 7,5 Kräften.

Das von Augurzky im Folgenden Artikulierte ließ einige Teilnehmer dann schlucken. Denn auf Basis der statistisch verfügbaren Daten sei „keine signifikante Belastungsveränderung der Pflege zwischen 2002 und 2014“ auszumachen. Denn hat die Zahl der Pflegekräfte je Fall um 11,7% abgenommen, so verzeichnet sie je Belegungstag ein Plus von 11,8%. Pro pflegerelevanter Leistungsmenge, die im Bezug auf die These die aussagekräftige Größe bei der Untersuchung ist, ist die Zahl der Pflegekräfte demnach bei einem fallfixen Aufwand von 40% um 1% gestiegen, bei einem 50-prozentigen Aufwand um 1,3% gesunken.

Kritische Töne

Prof. Frank Weidner kritisierte bereits 2016 dieses „[…] unsinnige Zahlenspiel […]“, wie der Vorstand der Fachgesellschaft Profession Pflege in seiner Stellungnahme zur Studie den Direktor des Deutschen Institutes für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) zitiert. Weidner zeigte auf, dass dieselbe Berechnungsgrundlage im ärztlichen Dienst einen aktuellen Überhang von 30.000 vollzeitbeschäftigen Ärzten bedeuten würde. Darüber hinaus bemängelt Weidner, dass die Zunahme der Ärztestellen um 34% im Untersuchungszeitraum nicht als Belastungsfaktor für die Pflegekräfte gewertet wurde. Es liege auf der Hand, dass diese zusätzlichen Mediziner diagnostizieren und therapieren und damit zusätzliche Arbeitsaufwände im Bereich der Pflegeberufe produzierten. Dr. Christian Bünnings, Wissenschaftler im Kompetenzbereich „Gesundheit“ am RWI hält dem entgegen: „In unseren multivariaten Regressionsanalysen wurden stets auch die Ausstattungen mit ärztlichem Personal berücksichtigt.“

Doch, so räumte Augurzky auf dem GDW 2017 ein, hänge der Pflegeaufwand von weiteren Faktoren ab, für die es allerdings zum Zeitpunkt der Studiendurchführung keine Evidenz gegeben habe. So nannte er beispielsweise die Fluktuation der Pflegekräfte, den Bürokratieaufwand oder das Aufgabenspektrum der Pflege (z.B. Transportdienste, Essensausgabe). Das Alter der Patienten sei zum Teil messbar, so sei der Anteil der über 80-Jährigen von 11,3% im Jahr 2002 auf 15,6% im Jahr 2014 gestiegen. Aber, so vermuten die Studienautoren, es findet eine Verlagerung von Pflege aus dem Krankenhaus statt und so resümierte Augurzky, dass keine spürbare Veränderung der Zahl der Pflegekräfte in Relation zu der pflegerelevanten Leistungsmenge zu verzeichnen ist.

Als Bestätigung nannte der Referent einen steigenden Anteil der von der GKV finanzierten ambulanten Pflege von 1,1%-Punkten in den Jahren 2002 bis 2013 und immer mehr Direktüberweisungen vom Krankenhaus in Pflegeeinrichtungen. Hier liegt die Steigerung im genannten Zeitraum bei 300.000 Fällen.
Diese Zahlen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unzufriedenheit der Pflegekräfte deutlich gestiegen ist. So stellte Augurzky die subjektiven Einschätzungen des Pflegepersonals in Form eines Anstiegs „emotionaler Erschöpfung“, der sinkenden Zufriedenheit mit dem Arbeitsklima und der Personalausstattung objektiven Indikatoren gegenüber: dem Anstieg des Krankenstandes seit 2006 wie auch dem Anstieg der Teilzeitquote, die allerdings in allen Branchen stattgefunden hätten. Der Anteil der Pflegenden mit Kündigungsabsicht in Deutschland im europäischen Durchschnitt wird als ein weiterer objektiver Indikator ausgewiesen.

Schlechtere Versorgungsqualität?

Im Bezug auf die Versorgungsqualität konnten die Studienautoren keine Verschlechterung feststellen. Die herangezogenen QSR-, AQUA- und BQS-Daten weisen partiell sogar auf eine Verbesserung der Situation hin. Die Patientenzufriedenheit bewegt sich den Untersuchungsergebnissen nach auf konstant hohem Niveau. Als Beleg führte Augurzky eine Befragung der TK ins Feld, bei der sich die Zufriedenheit mit der medizinisch-pflegerischen Versorgung zwischen 2007 und 2013 mit 77% auf gleichbleibendem Niveau befand. Als weiteren Aspekt nannte der Studienleiter den gesunkenen Patientenanteil mit postoperativen Wundinfektionen: So sank die Dekubitusrate bei entlassenen Patienten, die bei Aufnahme keine Infektion aufwiesen von 1,5% im Jahr 2004 auf 0,9% im Jahr 2012.

Demgegenüber steht die durch das Personal empfundene, reduzierte pflegerische Versorgungsqualität. 82% der Pflegedirektoren, 68% der Chefärzte und 51% der Geschäftsführer bemängeln Defizite in der pflegerischen Versorgung wegen wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Indikatoren zur Versorgungsqualität sind aus Sicht der Pflegenden zum einen die Pflegequalität auf der Station, die zwischen 1998/99 und 2009/10 nach Wahrnehmung der Pflegenden von 80% auf 65% gesunken sei sowie der Mangel an psychosozialer Aufmerksamkeit, was sich in einem Wert von 82% (2009/10) im Gegensatz zu 54% im Jahr 1998/99 manifestiert. Nur die Patientensicherheit auf der Station hat nach Meinung der Pflegenden deutlich zugenommen (Anstieg von 69% auf 94%).

Doch – so stellen die Autoren fest – gibt es keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Pflegepersonalausstattung und Rationierungsintensität. Einerseits bezieht man sich hier auf Ergebnisse einer Studie von Reifferscheid, Pomorin und Wasem (2014), andererseits rekurriert Augurzky auf Multivariate Regressionsanalysen auf Basis von Krankenhausdaten des Statistischen Bundesamtes.
Bei der Untersuchung der Daten aus den Jahren 2002 bis 2013 wurde demnach ein „leicht positiver“ Zusammenhang zwischen der Anzahl der Vollzeitpflegekräfte und der Mortalitätsrate festgestellt, der jedoch „keine relevante Größenordnung darstelle und sich statistisch nur schwach auswirke: Die Erhöhung der Pflegekraft in Vollzeit pro Fall um 10 % korreliert im Durchschnitt mit einer Verringerung der Mortalitätsrate um 0,05%.

Kritik an der Mortalitätsrate als wesentlicher Ergebnisgröße übt der Vorstand der Fachgesellschaft Profession Pflege und sieht darin keinen durchgängig pflegesensitiven Qualitätsindikator, weil er womöglich in weit größerem Ausmaß durch das ärztliche Leistungsgeschehen und zahlreiche weitere Faktoren beeinflusst werde. Bünnings (RWI) erklärt hingegen: „Die Mortalitätsrate ist in der internationalen Literatur ein Standardindikator.“

Handlungsempfehlungen

Abschließend hatte Professor Augurzky noch Handlungsempfehlungen im Gepäck, da eine Zunahme an offenen Stellen für Gesundheits- und Krankenpfleger und damit ein absehbarer Mangel an Pflegefachkräften ein Handeln notwendig mache. Als Ziele wies er aus, die Teilzeitquote zu reduzieren, eine längere Verweildauer im und die Rückkehr in den Beruf zu evozieren. Das könne jedoch nur mit einer Erhöhung der Attraktivität des Berufes erreicht werden, was allerdings neuer Karrierepfade und des Aufbrechens des Berufsgruppendenkens im Krankenhaus bedürfe. Denn die Essenz aus Expertengesprächen sei, dass die Patientenzufriedenheit dort am größten ist, wo die Zusammenarbeit zwischen Pflege- und ärztlichem Dienst am intensivsten ist und wo darüber hinaus eine gute Führungsstruktur im Pflegedienst herrsche.

Als zweite Größe bringen die Autoren die Akquise zusätzlicher Pflegekräfte durch Aus- und Weiterbildung wie auch qualifizierte Zuwanderung ins Spiel, wobei durch effiziente Prozesse und gutes Pflegemanagement, die Reduktion der Krankenhausnachfrage, die Ambulantisierung und intergrierte Versorgung, den Bürokratieabbau und nicht zuletzt durch die Digitalisierung in Zukunft insgesamt weniger Pflegepersonal im Krankenhaus benötigt werde. Eine Vorgabe zu Mindestbesetzungen in der Pflege im Krankenhaus ist nach Wertung der Studienautoren keine Option, da eine solche den Mehrbedarf an Personal erhöhe und innovationshemmend wirke. Stattdessen solle die Pflegequalität gemessen und transparent gemacht werden. Eine Aufgabe für das IQTIG, schloss Augurzky.

Franz Wagner, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe e.V. (DBfK), mahnte, wie aus der Stellungnahme des Vorstands der Fachgesellschaft Profession Pflege  hervorgeht, 2016 an, dass bisher noch keine pflegesensitiven Qualitätsindikatoren flächendeckend in der Pflege implementiert wurden. Ebenso ist nach Ansicht der Fachgesellschaft zu kritisieren, dass Forschungstätigkeiten im Bereich der Outcomeforschung der Pflege kaum systematisch gefördert werden. Damit sei die dringend erforderliche Entwicklung der Pflege und die Professionalisierung der Profession behindert.

Die Fachgesellschaft Profession Pflege empfiehlt daher:
Die Einführung einer Pflegepersonalbemessungsmethodik basierend auf Pflegediagnosen und -maßnahmen aus der Regeldokumentation. Notwendig hierzu sei die Aufnahme eines standardisierten und akzeptierten Pflegeklassifikationssystems in den ICD-10 (Pflegediagnosen) und den OPS (Pflegemaßnahmen) und die hierauf aufbauende Entwicklung von pflegerelevanten Fallgruppen (Nursing Related Groups – NRG) zur Vergütung pflegerischer Leistungen im Krankenhaus.

Außerdem die Entwicklung von bundeseinheitlichen, pflegesensitiven Qualitätsindikatoren, welche auf die standardisierte Datengrundlage der Pflegediagnosen und -maßnahmen sowie weitere Daten aus einer elektronischen Patientenakte zurückgreifen. <<

Ausgabe 02 / 2017