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„Wie Pilze aus dem Boden“

30.12.2016 16:20
Staatssekretär Karl-Josef Laumann auf der 21. Handelsblatt Jahrestagung „Health 2016“
>> Staatssekretär Karl-Josef Laumann referierte vor überraschend wenigen Teilnehmern auf der immerhin schon 21. Handelsblatt Jahrestagung „Health 2016“ den aktuellen Stand der Pflegegesetzgebung und stellte diese in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext dar. Als Laumann den für die recht wenigen Teilnehmer großzügig bemessenen Saal der Euroforum-Veranstaltung betrat, endete gerade die Session davor, die sich mit den Auswirkungen und möglichen Detailreformen des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung befasste. „Es ist doch schön, dass es in der Gesundheitspolitik auch noch einfachere Themen gibt“, meinte Staatssekretär Karl-Josef Laumann zur AMNOG-Thematik und leitete damit fließend zum einfacheren Thema Pflege über, das aber gar nicht so einfach ist.
Der Staatssekretär und Bevollmächtigte der Bundesregierung für Patienten und Pflege stellte in den Mittelpunkt seines Vortrags einen Überblick der Pflegeversicherung, die in dieser Wahlperiode im Bereich der Gesundheitspolitik im Fokus stand.  Rund 20 Jahre nach der ersten Pflegeversicherung, die in den Jahren 1992/1993 ohne die Beratung von Pflegewissenschaften  eingeführt worden ist, kommt nun ein neuer, großer Wurf. Damals sei das, erinnert sich Laumann an eine Zeit, in der er selbst schon als junger Bundestagsabgeordnerter mit dabei gewesen war, gemacht worden, nicht weil die Politik eine derartige Beratung abgelehnt hätte, sondern einfach deshalb, „weil es noch keine Pflegewissenschaftler im Bereich der Altenpflege“ gegeben hätte.
Zu dieser Zeit, die eben nur zwei Dekaden vergangen ist, war in den meisten Bundesländern der Beruf der Altenpflege nicht einheitlich geordnet, die im Heim zu Pflegenden schliefen im Westen in der Regel in Dreibettzimmern, im Osten Deutschlands hingegen in Schlafsälen. „Wir haben damals, wie wir halt so waren, nicht über Pflegebedürftigkeitsbegriffe philosophiert, sondern einen Leistungskatalog in der Pflege reingeschrieben“, denkt Laumann an die Entstehungszeit der ersten Pflegegesetzgebung zurück. Das damalige  Bild sei ein Mensch gewesen, der seine Arme und Hände nicht mehr bewegen kann und lediglich ein körperliches Problem habe. Darum seien Leistungen von Nahrungszubereitung, Zähne putzen bis Ankleiden, Waschen und Duschen ins Gesetz geschrieben worden, nachdem dann der MDK die in Frage kommenden Menschen eingestuft hat. „Pflegebedürftigkeit bedeutet in Wahrheit, dass sich der Radius, den ein Mensch noch selbstbestimmt im Leben gestalten kann, ganz klein geworden ist“, beschreibt der Pflegebeauftrage der Regierung die bittere Realität.
Da sich aber in der heutigen Zeit, in der immer noch zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zu Hause leben, die Situation der hochbetagten Menschen völlig verändert hat, weil die mittlere Generation des bundesdeutschen Volkes in der Regel berufstätig sei, wäre es an der Zeit gewesen, die Pflegeversicherung mit all ihren Instrumenten auf die heutige gesellschaftliche Situa-
tion einzustellen.
Einer der wichtigsten, genau deshalb getroffenen Strukturentscheidungen sei es gewesen, die Leistungen der Pflegeversicherung für die Tagespflege mehr als zu verdoppeln. Laumann: „Ich will, dass damit eine Tagesstruktur für pflegebedürftige Menschen entsteht, ähnlich wie wir es mit der U3-Betreuung für kleine Kinder haben. Nur eben anders gemacht.“
Da es zur Zeit in Deutschland nur für etwa 3 Prozent der Pflegebedürftigen Tagespflegeplätze gebe,  würden diese alleine schon aufgrund dieser Entscheidung „in den nächsten zwei bis drei Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen“.
Die zweite bedeutende Struktur-entscheidung wäre gewesen, dass sich künftig die Pfegestufen nicht mehr verändern werden, wenn im Zeitverlauf der Pflegefall schlimmer wird, was den emotionalen Druck um die Zuzahlung der Familien erheblich vermindern werde.
Und der dritte sei die neue Art der Bemessung der Pflegebedürftigkeit. Einfach aus dem Grunde heraus, dass in der seit den 90ern bis heute (bis 31.12 dieses Jahres) praktizierte Einstufungspraxis, Menschen mit demenziellen Erkrankungen schlechter wegkommen; was die inzwischen etablierte Pflegewisseschaft auch immer wieder moniert habe. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der nicht mehr minutengenau aufrechnet, was ein Mensch nicht mehr selbst tun kann, sondern die Frage beantwortet, wie selbstständig dieser durch seinen normalen Alltag gehen kann, werden Demenzkranke eine Pflegestufe höher als heute eingestuft. Laumann: „Das bedeutet erheblich mehr Leistungen, weil alleine in diesen Bereich der Versorgung drei Milliarden Euro mehr hinein gegeben werden, wobei diese drei Milliarden fast ausschließlich in den Bereich der Demenzerkrankten gehen.“ <<

 

Ausgabe 04 / 2016