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Auf die lange Bank geschoben

30.12.2016 16:20
Von verschiedene Seiten ist die wahrgenommene Stagnation des zu beratenden Gesetzentwurfes zur Reform der Pflegeberufe bereits lautstark kritisiert worden. Im Frühjahr dieses Jahres von Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnet, scheint das Ende des Gesetzgebungsverfahrens nach der parlamentarischen Sommerpause ungewiss, wie ein offener Brief und eine Stellungnahme von vier Pflegeexpertinnen, die seit Beginn des Jahres das Gesundheitsministerium sowie das Familienministerium bei der Entwicklung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung zum neuen Pflegeberufegesetz unterstützen, an Merkel bezeugt. Darin bemängeln die Pflegeexpertinnen auch die Reduzierung der Debatte auf die Generalistik.
>> „Die Ausbildungsreform ist eine notwendige Konsequenz des soziodemografischen Wandels, und sie dient der langfristigen und dauerhaften Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung“, erklärt Prof. Dr. Ingrid Darmann-Finck, vom Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen und warnt vor den Konsequenzen: „Wenn sie jetzt scheitert, stehen wir für längere Zeit mit leeren Händen da!“
Innovationspotenziale nutzen
In dem offenen Brief kommunizieren die vier Expertinnen, zu denen neben Darmann-Finck Professor Gertrud Hundenborn, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (dip), Professor Dr. Barbara Knigge, FH Bielefeld/praxisHochschule Rheine und Sabine Muths von der Universität Bremen gehören, dass sie mit dem erarbeiteten Gesetzentwurf zufrieden sind: „Mit vereinter Anstrengung ist es uns gelungen, einen Entwurf zu erarbeiten, der die Zielsetzungen des Pflegeberufsgesetzes konsequent aufgreift und auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und aktueller berufspädagogischer Konzepte für die künftige berufliche Pflegeausbildung und das primärqualifizierende Pflegestudium konkretisiert“, ist dem offenen Brief zu entnehmen. Sorge bereitet den Autorinnen allerdings die Umsetzung, woran auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhes Statement – das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen, wie er auf dem 39. Deutschen Krankenhaustag Mitte November postulierte – wenig zu ändern scheint.
Die zukünftigen Qualitätsanforderungen machten den vorliegenden Gesetzentwurf alternativlos, sind sich die Expertinnen einig und werden in der Stellungnahme konkreter, indem sie den Reformbedarf für Pflege- und Hochschulen seit längerem offenkundig und durch vielfältige Modellversuche untermauert sehen. Die genannten Institutionen hätten bereits Arbeitspläne sowie erste Grobkonzepte für die zu erwartende Ausbildungsreform in der Schublade, so die Autorinnen. Doch in der Reform stecke mehr als die in der Öffentlichkeit meist nur diskutierte Generalistik und so werden weitere Innovationspotenziale im Gesetzentwurf ausgemacht.
Komplexe Pflegeprozesse steuern
„Der Kern der Pflege besteht in der Steuerung und Gestaltung von komplexen Pflegeprozessen in der unmittelbaren Pflege von  Menschen aller Altersstufen unter Einbeziehung ihrer Angehörigen und Bezugspersonen und  umfasst im Sinne eines weiten Pflegebegriffs gesundheitsfördernde und präventive, kurative, rehabilitative und palliative sowie sozialpflegerische Dimensionen“, geben die Expertinnen an und sind froh im Gesetzentwurf eine Definition von vorbehaltenen Tätigkeiten lokalisieren zu können, welche sich auf „die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs“ (Pflegediagnostik), „die Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses“ sowie auf  „die Analyse, Evaluation, Sicherung  und  Entwicklung der Qualität  der  Pflege“ (§ 4) beziehen. Mit diesen Vorbehaltsaufgaben werde die Kompetenz von Pflegefachpersonen erstmals anerkannt und wertgeschätzt.
Die demografische Entwicklung macht ein Schieben der Reform „auf die lange Bank“ unmöglich. Auch die soziodemografischen und epidemiologischen Entwicklungen führten in allen (stationären, ambulanten o.ä.) Versorgungskontexten zu zunehmend komplexer werdenden pflegerischen Versorgungsbedarfen, stellen die Autorinnen fest. Dem könne nachgewiesenermaßen mit einer generalistischen Pflegeausbildung begegnet werden, um die Bedarfe in allen Versorgungsbereichen und auch sektorenübergreifend sicher zu stellen.
Darüber hinaus sei interdisziplinäre Zusammenarbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen von großer Bedeutung. Dem trage der vorliegende Entwurf durch eine konsequente systemische Sichtweise Rechnung, indem neben dem unmittelbaren klientenbezogenen Verantwortungs- und Aufgabenbereich, team-, institutions-, und gesellschaftsbezogene Aufgaben festgelegt würden. Mit diesem Aufgabenzuschnitt wie auch mit den in der Ausbildungs- und Prüfungsordung formulierten Kompetenzen, entspreche das Gesetz den Anforderungsrichtlinien und führe damit auch zu einer EU-weiten Anerkennung der deutschen Pflegeausbildung.
Appell an die Kanzlerin
Belastbare Evaluationsergebnisse zahlreicher Modellversuche aus den letzten Jahren hätten ihren Niederschlag im Gesetzentwurf gefunden, urteilen die Pflegeexpertinnen. Nun sei es an der Zeit, die Reform umzusetzen, da die Implementierungsmaßnahmen an Pflege- und Hochschulen rund ein Jahr Zeit benötigten. Auch für die Ausbildungs- und Studienaspiranten seien frühzeitige und verbindliche Informationen für die Berufswahlentscheidung unerlässlich.
„Wir appellieren daher an Sie, sich für das Pflegeberufsgesetz in der vorliegenden Form einzusetzen und die Verabschiedung voranzutreiben“, erschallt der Ruf an die Politik, der hoffentlich ein Echo findet. <<

Ausgabe 04 / 2016