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Das Heft in die Hand nehmen

21.01.2017 16:20
Der Deutsche Pflegetag, der vom 25.-27. März in Berlin stattfand, hatte sich das Thema „Pflege hat die Wahl“ auf die Fahne geschrieben. Nicht allzu ungewöhnlich im Jahr der Bundestagswahl, doch auf semantischer Ebene auf jeden Fall mehrdeutig zu verstehen, und so wollte „Monitor Pflege“ von Professorin Sandra Bensch, die eine Professur für Pflegepraxis und Pflegedidaktik an der Katholischen Hochschule Mainz innehat und Mitglied der Vertreterversammlung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz ist, wissen, in welchem Kontext sich der Pflege weitere Wahlmöglichkeiten eröffnen. Da zeigt sich, dass nicht nur die Qual der Wahl an der Urne eine Herausforderung sein kann, sondern auch die Einstellung zu Themen wie Pflegekammer, Ausbildungsweg oder Strukturen in der Pflege. Dabei gilt grundsätzlich: Aktive Teilhabe am Geschehen im beruflichen Umfeld ist die Voraussetzung für mehr Mitbestimmungsmöglichkeit. Und davon braucht es mehr. Aber auch die Politik ist am Zug.
>> Mit dem Motto „Pflege hat die Wahl“ betont der Deutsche Pflegetag in diesem Jahr die politische Dimension. Was erwarten Sie von der Politik in Sachen Pflege? Was kann und muss die Politik Ihrer Meinung nach zur Attraktivitätssteigerung durch Verbesserung der Rahmenbedingungen tun?

Zunächst geht es erst einmal um die Veränderung des Blickwinkels. Das fordere ich von der Politik. Pflege ist in erster Linie ein inhaltlicher Leistungserbringer und kein Kostenfaktor. Mittelfristig gehe ich davon aus, dass verbindliche Aussagen zur Pflegepersonalbedarfsbemessung und Akademisierung sowie Generalistik der Pflege getroffen werden. Zu letzterem wissen wir vermutlich zur Veröffentlichung dieses Interviews mehr.
Ich bin gespannt, welche Ergebnisse von der Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ vorgelegt wird. Ergebnisse sind ja zum Ende 2017 im Bundesgesundheitsministerium zu erwarten. Allerdings möchte ich schon mal vorsichtig andeuten, dass es schwierig ist, von den Pflegebedarfen demenzerkranker, pflegebedürftiger oder behinderter Patientinnen und Patienten auf Anzahl und Qualifikationen von Pflegenden zu schließen. Welche (neuen) Rechenmodelle liegen da vor?

Professor Michael Simon, der an der Hochschule Hannover bis 2016 Gesundheit und Soziales mit den Arbeitsschwerpunkten Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik gelehrt hat, stellte Ende Februar eine Studie zu Mindestpersonalvorgaben vor. Wäre das was?

Es darf vermutet werden, dass die Ergebnisse der kürzlich erschienenen Studie von Sandra Mehmecke und Michael Simon – „Nurse-to- Patient Ratio“ – von der Expertenkommission aufgegriffen werden. Immerhin hat das Forscherteam zusammengetragen, dass eine Pflegefachkraft in deutschen Kliniken durchschnittlich für 13 Patienten zuständig ist. In den USA sind es hingegen „nur“ 5,3 Patienten und in den Niederlanden sieben. Zu beachten sei bei der Vorgabe einer Mindestpersonalbesetzung, so die Forscher, dass ein Regulierungssystem das jeweilige Fachgebiet und die Schwere der Pflegebedürftigkeit durch ein Patientenklassifikationssystem beachten sollte.

Mittelfristig sollten zudem politische Entscheidungsträger auch offiziell zur Erkenntnis kommen und beachten, dass Anleitung eines körperlich oder kognitiv beeinträchtigten Menschen wesentlich mehr Zeit und Pflegefachlichkeit in Anspruch nehmen kann als Übernahme, das heißt Kompensation von Maßnahmen.
Das Zweite und Dritte Pflegestärkungsgesetz zielen auf Förderung und Erhalt von Selbständigkeit ab. Menschen sollen solange wie möglich im häuslichen Umfeld verbleiben. Neben Beratung wird pflegefachliche Anleitung gefordert, für pflegende Angehörige und Pflegebedürftige. Diese Leistungsformen werden in den kommenden Jahren zunehmen. Anleitung braucht Pflegefachlichkeit, denn damit ist eine Problem- und Bedarfseinschätzung verbunden.
In beiden Pflegestärkungsgesetzen wird gefordert, dass Betroffene von ihren Angehörigen auch dann gut betreut sein sollen, wenn Pflegekräfte nicht anwesend sind. Das heißt konkret, es braucht mehr und fachlich qualifiziertes Personal sowie einen Abschied vom grundsätzlichen sozialversicherungsrechtlichen Denken: „Kompensation ist aufwändiger als Anleitung.“ Und das muss sich auch in der Bezahlung von den genannten politisch geforderten Leistungsformen widerspiegeln. Grundsätzlich wird Pflege für Schulabgängerinnen und -gänger attraktiv, wenn sie von der Politik auch so dargestellt wird – mit Hochschulstudium, Karrieremöglichkeiten und angemessener Bezahlung. Es geht darum, ihr die Wichtigkeit zu geben, die sie verdient.

Welche der Parteien bietet für Sie da derzeit – sowie im Hinblick auf die Bundestagswahl im September – programmatisch die beste Perspektive?

Verschiedene Politikerinnen und Politiker haben sich ja im Rahmen des Deutschen Pflegetags zur Frage geäußert, welche Maßnahmen sie gegen den Fachkräftemangel im Bereich „Pflege“ vorschlagen. Hilde Mattheis kann so verstanden werden, dass die SPD eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine moderne Ausbildungsordnung mit Aufstiegsmöglichkeiten durch Akademisierung sowie eine stärkere Durchlässigkeit der Berufszweige unterstützt. Pia Zimmermann gibt an, dass Die Linke, einen Pflegepersonalfonds fordert, von dem sie sich gute Löhne und mehr Fachkräfte verspricht. Zudem fordert diese Partei eine integrierte Ausbildung mit eigenständigen Berufsabschlüssen und ohne Schulgeld, sowie eine kostenfreie Weiterbildung.

Elisabeth Scharfenberg informiert über die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, schnell bundeseinheitliche, verbindliche Personalbemessungsinstrumente zu entwickeln und sieht in der Wiederbelebung der Pflegepersonalregelung (PPR) eine Übergangslösung. Von mehr mitarbeiterorientierter Betriebsführung, zum Beispiel Arbeitsschutz und familienfreundlichen Arbeitszeiten, verspricht sich diese Partei, mehr Personal zu gewinnen und zu halten.

Maria Michalk betont als Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Reform der Ausbildung aller Pflegeberufe. Konkret werden Berufseinsteiger mit variablen Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung, mehr Flexibilität in der Ausübung des Berufs und der Durchlässigkeit zu anderen Einsatzmöglichkeiten und generellen Aufstiegschancen beworben, so die Sprecherin.

Sie sehen, es existieren parteiübergreifende Themen, die sich teilweise auch mit meinen Forderungen decken. Allein, ich bin mir nicht sicher, ob alle vom Gleichen reden und unter Pflege, jenes verstehen, was es ist. Pflege ist Beziehungshandeln. Ein Aufteilen in pflegerische Einzelhandlungen ist vollkommen überholt!

Wählen bedeutet Freiheit, die Freiheit sich zu entscheiden. In Ihrem Statement zum diesjährigen Motto des Pflegetages appellieren Sie in Ausgabe 01/2017 von „Monitor Pflege“ an die Pflegefachkräfte, das Heft selbst in die Hand zu nehmen und damit die Pflege professionell zu gestalten. In welcher Form ist es den Pflegefachkräften denn möglich, Entscheidungen mitzugestalten?

Diese Frage möchte ich zunächst auf landespolitischer Ebene beantworten. Die Pflegekammer Rheinland-Pfalz, die zum ersten Januar 2016 ihre Arbeit aufgenommen hat, steckt via Ausschüssen, Arbeitsgruppen, im Rahmen von Vertreterversammlungen und vielem mehr, mitten in der Generierung von Ordnungen, Satzungen und so weiter. Dazu gehört auch eine Berufsordnung für Pflegende. In dieser wird stehen, was Pflege ist und was Pflege darf. So können Vertreterinnen und Vertreter aus der Pflege auf Landesebene in verschiedenen Gremien, Kommissionen usw. beeinflussen und je nach Konstrukt mitbestimmen, was Pflege ausmacht.
Festzulegen, was Pflege von anderen Berufsgruppen emanzipiert, bedeutet für die Berufsangehörigen aber auch, zu klären, was Pflege tun will. Dazu könnten in weiteren Schritten Fachgesellschaften in der Pflege gegründet werden, die für ihre jeweiligen Bereiche pflegerisch fundierte und begründete Indikatoren, Messkriterien und Zahlen liefern.

Mein Statement in der Januarausgabe der Zeitschrift „Monitor Pflege“ weist einen Appell an die Pflegefachkräfte auf, wie Sie sagen, „das Heft selbst in die Hand zu nehmen“. Diese Aussage habe ich vor dem Hintergrund unzähliger Begegnungen mit Pflegefachkräften im Bundesgebiet getroffen. In vielen Gesprächen stelle ich fest, dass Pflegende zu „Was ist Pflege?“ vor sozialversicherungsrechtlichen oder anderen fremd bestimmten Hintergründen antworten.

Haben Sie ein Beispiel?

Beispiele sind „Ich muss doch die Braden-Skala einsetzen, weil die Klinik das so will.“ oder „Ich muss das Körpergewicht einmal im Monat bestimmen, weil der MDK das prüft.“ Mir fällt eine passive Haltung Pflegender auf, häufig verbunden mit der Aussage: „Das hat mir noch keiner gesagt.“ Diejenigen, die sich so verhalten, kommen aus allen Altersstufen sowie Pflegeausbildungen und aus verschiedenen Settings. Es trifft aber nicht auf alle Pflegenden zu! Von denen, die sehen, was Pflege ist und was Pflege sein kann, in ihrer planerischen und evaluativen Arbeit und in ihrem konkreten Handeln beispielsweise miteinander verknüpfen können, wie Mobilität und Kognition zusammenhängen, wie wichtig eine pflegerisch-strukturierte Überleitung vom Krankenhaus ins langfristige Wohnumfeld ist und dass sich interdisziplinäre Zusammenarbeit lohnt, wünsche ich mir mehr. Das sind die, zumindest hoffe ich das, die sich als Pflegende wichtig nehmen, aufstehen und ihr berufliches Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Bleiben wir beim Stichwort „Pflegekammer“. Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerates, fordert die Einrichtung einer Bundespflegekammer in diesem Jahr. Dabei haben erst drei Bundesländer eine Landespflegekammer beschlossen. Wie kann sich eine Kammer auf Bundesebene vor diesem Hintergrund konstituieren?

Zur gestrigen Eröffnung des Deutschen Pflegetags 2017 hat sich der Präsident der rheinland-pfälzischen Pflegekammer, Markus Mai, ebenfalls für die Errichtung einer Bundespflegekammer stark gemacht. Wichtig ist zu wissen, dass die Bundespflegekammer die Spitzenorganisation der Landespflegekammern ist und deren Aktivitäten bündelt. Die Vertreterinnen und Vertreter der Landespflegekammern können den Zeitpunkt zur Gründung einer Bundespflegekammer frei wählen. Es ist davon auszugehen, dass aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die sich im Gründungsprozess ihrer Landespflegekammern befinden, hierzu Signale kommen, sobald dies den Landesvertreterinnen und -vertretern aus der Pflege rechtlich möglich ist.

Für Rheinland-Pfalz kann ich sagen, dass sich die Mitglieder der Vertreterversammlung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz für die Gründung der Bundespflegekammer ausgesprochen haben. Für den Gründungsprozess soll ihrer Ansicht nach eine Gründungskonferenz zur Errichtung der Bundespflegekammer mit mindestens den Vertreterinnen und Vertretern der bereits vollständig etablierten Kammern gebildet werden. Damit sind neben Rheinland-Pfalz Niedersachsen und Schleswig-Holstein gemeint, denn es sind Bundesländer, in denen es bereits Gesetze zur Errichtung von Landespflegekammern gibt.

Was wird denn die Aufgabe der Bundespflegekammer sein?

Eine Bundespflegekammer ist eine Arbeitsgemeinschaft der Pflegekammern auf Landesebene, anders als dort keine Anstalt öffentlichen Rechts! Sie verfolgt in erster Linie ideelle Zwecke, die die Mitglieder selbst festlegen können.

Ursula Jendrsczok und Manuela Raiß verweisen in ihrem kürzlich erschienen Buch „Die Bundespflegekammer“ darauf, dass das Ziel einer Bundespflegekammer sein wird, die Arbeit der Landespflegekammern zu koordinieren und eine kooperative Zusammenarbeit herzustellen. Zu ihren Aufgaben wird es unter anderem gehören, sich aktiv in das gesundheitspolitische Geschehen einzubringen, Meinungsbildungsprozesse der Gesellschaft zu prägen und bürgernahe und verantwortungsbewusste Perspektiven der Gesundheits- und Sozialpolitik zu entwickeln.

Die Bundespflegekammer wird die Repräsentanz nach außen sein, das heißt auf europäischer und internationaler Ebene agieren. Dort wird sie die Meinung der deutschen professionell Pflegenden in gesundheits-, berufspolitischen und pflegespezifischen Belangen vertreten. Übrigens existiert seit gestern eine Homepage – nämlich www.bundespflegekammer.de – auf der Informationen rund um den Start zur Etablierung der Bundespflegekammer abgerufen werden können.

Andreas Westerfellhaus fordert ebenso ein größeres Mitspracherecht der Pflege in Form der Aufnahme von Angehörigen des Berufsfeldes in den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Für Sie eine realistische Möglichkeit zur größeren Einflussnahme?

Die Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird von den vier großen Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen gebildet: der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem GKV-Spitzenverband. Diese vier Trägerorganisationen sind sitz- und stimmberechtigt. Zusätzlich existieren noch fünf Sitze für Patientenvertreterinnen und -vertreter. Diese haben ein Mitberatungs- und Antragsrecht, jedoch kein Stimmrecht. Somit ist schon mal klar, was Pflege braucht für eine realistische Möglichkeit zur größeren Einflussnahme: Sitze mit Stimmrecht! Eine Bundespflegekammer wird jedoch – anders vielleicht, als viele hoffen – keinen automatischen Platz im G-BA erhalten.

Die Bundesärztekammer ist dort auch nicht vertreten. Für die im SGB V definierten Leistungsbereiche macht der G-BA im Auftrag des Gesetzgebers Vorgaben zu Behandlungsstandards, Strukturen und Abläufen. Hier würden mir unzählige Aufgaben einfallen, die die Pflege betreffen. Zum Entlassungs- und Überleitungsmanagement beispielsweise oder zu Vorgaben einer Mindestpersonalbesetzung.

Die eben angesprochene Reform der Pflegeberufe wird kontrovers diskutiert – sowohl von Seiten der Pflegefachkräfte als auch von Seiten der Ärzte und der Politik. So befürchten diverse Spezialisten wie zum Beispiel Kinderärzte oder Geriater, dass durch die geplante gemeinsame Ausbildung wertvolles Fachwissen nicht vermittelt wird und dadurch die Qualität der Pflege leidet. Ist diese Sorge berechtigt?

Die Vertreterversammlung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz hat sich für die Generalistik zur Reform der Pflegeausbildung ausgesprochen. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit verschiedenen Pflegemodellausbildungen und war von Anfang an für die Generalistik. Pflege ist nicht nur Pflege des einzelnen, sondern die pflegerische Beziehung sollte stets im Kontext von Familie und Gemeinde mitgedacht werden. Wenn der pflegerische Auftrag endet – Menschen also (wieder) selbständig ihre Alltagsaktivitäten bewältigen können – sollen sie einen sicheren Platz in ihrem Umfeld haben, das sie in ihrem Tun bestärkt. Aber die (ehemaligen) Pflegebedürftigen sollen auch etwas an ihre Familie und Gemeinde zurückgeben können, für ein stabiles soziales Konstrukt.

Ist das nicht schon ziemlich abstrakt gedacht?

Zu abstrakt? Nein, das finde ich nicht. Wenn ich Kinder pflege, sehe ich sie im Kontext ihrer Familie. Wie sind die familiären Beziehungen? Wie verhalten sich Bezugspersonen? Was ist förderlich, was ist hinderlich für den Erhalt und die Förderung von Selbständigkeit? Diese Fragen können Sie übertragen auf den Demenzbetroffenen in seinem Demenzdorf oder die unheilbar Krebskranke im Hospiz.
Es geht um das große Ganze oder auch Quintessenz, nämlich um das, was allen pflegerischen Settings gleich ist und sich in den Vorbehaltsaufgaben des Pflegeberufsgesetzes widerspiegeln würde.
Heiner Friesacher spricht von einem identitätsstiftenden Kern. Es kommt also darauf an, ob und inwieweit Pflegende ihren Handlungsgegenstand definieren können. Und glauben Sie mir bitte, das Definieren ist nicht einmal das Problem. Ich gebe in Seminaren oft diese Aufgabe. Da wird nach kurzem Zögern häufig der Stift geschwungen und heraus kommen schöne Definitionen, die viel mit der diesbezüglichen Definition des Internationalen Pflegerats zu tun haben. Wenn ich dann aber frage: „Was von dem setzen Sie täglich um?“, blicke ich in betretene Gesichter und ich muss mich bemühen, die Pflegenden aus einer Rechtfertigungshaltung wieder herauszuholen.

Und auf der Basis von dem, was sie täglich tun und von ihnen verlangt wird, stemmen sich Pflegende gegen die Generalistik, beeinflusst durch Arbeitgeberverbände, Kinderärzte und Geriater. Eine Kinderkrankenpflegende hat mir stolz berichtet, dass sie die Petition gegen die Generalistik unterschrieben hat, weil sie ihre Identität behalten wolle. Dabei hat sie aber nicht mit bedacht, dass sie damit quasi die wieder aufgekommene Diskussion um das Y-Modell unterstützt.

Das Y-Modell?

Will heißen, die ersten beiden Jahre gemeinsam und das dritte Ausbildungsjahr im Differenzierungsbereich. Damit bleibt alles beim Alten beziehungsweise der Status quo wird untermauert, wie Carsten Drude sagt. Und mit der bisherigen Ausbildungssituation war die betreffende Kinderkrankenpflegende aber auch nicht zufrieden. Dennoch kann ich Ihre Frage nicht mit einem entschiedenen „Nein!“ beantworten. Wissen Sie, als die Berufsgesetze im Jahr 2004 in Kraft traten, gab es leider Schulen, die den lernfeldorientierten Ansatz nicht inhaltlich umgesetzt haben. Es wurde einfach überlegt, welche Fächer zu welchen Themenbereichen und Lernfeldern gehören. Gemacht wurde weiter wie bisher. Das ist nicht der Sinn der Sache. Es wäre also fatal, wenn mit Inkrafttreten des Pflegeberufsgesetzes und seiner Ausbildungs- und Prüfungsverordnung Lehrende „containerorientiert“ Altenpflege, Kinderkrankenpflege und Krankenpflege unterrichten würden. Generalistische Ausbildung bedingt ein Umdenken.

Ich als Professorin muss mich bemühen, Themen so anzubringen, dass sie die eben gestellten Fragen für Kinder, junge Erwachsene, Schlaganfallbetroffene und Sterbende beantworten. Das heißt, ich stelle den Rahmen und begleite die Lernenden bei der inhaltlichen Ausgestaltung, je nachdem in welchem pflegerischen Setting sie sich bewegen (wollen). Das ist zunächst eine Herausforderung, aber das gibt sich mit der Zeit. Zudem – eine generalistische Pflegeausbildung bildet erst einmal die Voraussetzung für spezialisierte Weiterbildungen. Wenn Arbeitgeberverbände, Geriater und Pädiater Angst haben, ihre Fachkräfte zu verlieren, sollen sie sich stark machen für die Weiter- und Fortbildungen in der Pflege. Dann erhalten sie nämlich hochkarätige Pflegefachkräfte, die möglicherweise noch besser gebildet sind als nach bisherigen Maßnahmen.

Als Mitglied des Ausschusses der Weiter- und Fortbildung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz setze ich mich dafür ein, dass der Gedanke von generalistischen Ausbildung zur spezialisierten Weiterbildung in der Ausschussarbeit mitbedacht wird.

Professor Isfort hat in einer Studie für das Kuratorium Wohnen im Alter kürzlich dargelegt, dass nicht der bundesweite Bedarf an Pflegefachkräften, sondern der regionale Bedarf analysiert werden muss. Sehen Sie die Kommunalisierung bzw. Regionalisierung der Pflege auch als zentralen Aspekt für eine zukunftsfähige Pflege?

Michael Isfort hat im Februar 2017 im Rahmen eines Symposiums des Kuratoriums Wohnen im Alter dargelegt, dass im Landkreis München von 2015 bis 2030 die Zahl der über 80-Jährigen um 75 Prozent steigen wird. Im Landkreis Wunsiedel hingegen im gleichen Zeitraum nur um sieben Prozent. Gleichzeitig verriet Michael Isfort, dass es im Oktober 2016 gerade einmal 199 arbeitslose Altenpflege-Fachkräfte in Bayern gab – also keinerlei Reserven. Arbeitgebern, die Stellenanzeigen schalteten, bescheinigte er Nicht-Erfolg und forderte sie auf, das Geld lieber zu spenden.

In dieser Veranstaltung hat er, den aktuellen Strukturen folgend, dennoch Lösungsvorschläge unterbreitet, zum Beispiel aus 60-Prozent-Arbeitsstellen 75-Prozent-Arbeitsstellen zu machen. Oder die Altenpflege dahin zu bringen, dass sie für Abiturienten interessant wird. Dazu sollten sich trägerübergreifende Allianzen bilden.
Es muss Geld in die Hand genommen werden, damit sich etwas in der Pflege ändert. Und der Bundespolitik muss die pflegerische Versorgung ihrer Bevölkerung noch viel, viel wichtiger werden als bisher. Mit echten Kennzahlen und einer breit aufgestellten Zuarbeit, was sich im Bundesgebiet tut. Die Kommunalisierung ist ein Aspekt einer zukunftsfähigen Pflege. Als den zentralen würde ich ihn nicht bezeichnen. Der Unterversorgung von Pflegebedürftigen auf dem Land werden viele Modelle entgegengestellt, von arztnahen Modellen wie „AGnES“ und „VERAH“ und pflegepräventiven wie die „Gemeindeschwester Plus“.
Die Kommunen mehr in die Verantwortung zu nehmen, finde ich wichtig. Die Umsetzung wird sich voraussichtlich daran messen lassen, wie wichtig Pflege der Politik auf verschiedenen Ebenen in den kommenden Jahren wird.

Frau Professor Bensch, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MoPf-Redakteurin Kerstin Müller.

Ausgabe 02 / 2017