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Gestaltungswille und Engagement

07.12.2017 09:50
Mecklenburg-Vorpommern steht vor großen Herausforderungen: Mit seiner alternden Bevölkerungsstruktur und zugleich sinkenden Einwohnerzahlen müssen strukturelle Veränderungen geschaffen werden, die eine – auch bezahlbare – Perspektive für alternde, pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige bietet. Dass das Land die Zukunft gestalten und nicht nur auf die Rahmenbedingungen reagieren will, machte die Ministerin für Soziales, Integration und Gleichstellung in Mecklenburg-Vorpommern, Stefanie Drese, auf der Berliner Pflegekonferenz 2017 deutlich. „Wir benötigen einen intelligenten Mix aus professioneller, familiärer und ehrenamtlicher Pflege für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Deshalb wollen wir, begleitet von integrierten Pflegesozialplanungen in allen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, diese Netzwerke sinnvoll weiterentwickeln und etablieren.“ Drese betont, dass der demografische Wandel nicht nur als Belastung, sondern auch als Chance begriffen werden kann.

>> Frau Drese, die Sondierer des potenziellen Jamaika-Bündnisses auf Bundesebene hatten zu Beginn der Gespräche festgehalten: „Uns eint der Wille, die Arbeitsbedingungen in der Alten- und Krankenpflege spürbar zu verbessern.“ Im Gegensatz zu anderen Bereichen schienen sich die Beteiligten einig über die Richtung in der Pflege zu sein. Welche Rahmenbedingungen muss eine Regierung für die Pflege schaffen?
Völlig unabhängig von der Zusammensetzung der neuen Bundesregierung muss das Thema Pflege in den Mittelpunkt der Politik rücken. Wir werden immer älter, damit steigt der Bedarf an Pflegeleistungen. Darauf müssen wir uns frühzeitig einstellen und gesamtgesellschaftliche Antworten finden. Vordringlich sind die Deckung des Bedarfs an Pflegekräften, integrierte Pflegesozialplanungen vor Ort, für die Pflegebedürftigen finanzierbare ambulante, teilstationär und stationäre Angebote, aber auch die Unterstützung der pflegenden Angehörigen. Enge Familienmitglieder sind nämlich der größte „Pflegedienst“ in unserem Land. Sie gilt es zu stärken, etwa durch gezielte Hilfen und gute und unabhängige Beratungsangebote.

Pflegestärkungsgesetze, ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, Pflegeberufereform etc.: Es gab in der letzten Legislaturperiode viele Änderungen in Bezug auf die Pflege. Welche beschlossene Maßnahme hat Ihrer Meinung nach eine besonders richtungsweisende Bedeutung für die Pflege? Welche geht Ihrer Meinung nach nicht weit genug?
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie die Umstellung von bisher drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade sind aus meiner Sicht große Fortschritte. Danach erhalten ab 2017 alle Pflegebedürftigen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung, unabhängig davon, ob sie von körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen betroffen sind. Das ist ganz wichtig z.B. für Demenzerkrankte. Im Grundsatz geht es darum zu erkennen, wann insbesondere ältere Menschen alltägliche Verrichtungen nicht mehr vollständig alleine bewältigen können und der pflegerische Zeitaufwand für die Anerkennung einer Pflegestufe bzw. jetzt Pflegegrad ausreicht.

Und ich halte die bundesweite Abschaffung des Schulgelds bei der Pflegeausbildung ab 2020 für eine wesentliche Voraussetzung, um den zukünftigen Fachkräftebedarf decken zu können.

Stichwort Fachkräftemangel: Gesundheitspolitische Akteure und Stakeholder rund um die Pflege sind auf der Suche nach einem Rezept, wie das Berufsbild der Pflegefachkraft attraktiver zu gestalten ist und somit mehr Personal bindet. Welche Lösung halten Sie hier für sinnvoll?
Wir brauchen mehr gesellschaftliche Wertschätzung für die Pflegekräfte. Die wichtige Arbeit verdient ein besseres Image. Ich habe mal gelesen, die Pflegebranche muss als Arbeitgeber „sexy“ werden. Das ist sicherlich zugespitzt ausgedrückt, aber der Kern der Aussage ist richtig. Natürlich brauchen wir darüber hinaus in der Pflege auch höhere Löhne, flexible, familienfreundliche Arbeitszeitmodelle, gute Rahmenbedingungen, ein vernünftiges Arbeitsklima – also insgesamt ein Bündel an Maßnahmen, um den Beruf attraktiver zu machen. Mein Eindruck ist, manche Arbeitgeber haben das verstanden, bei anderen ist noch viel Luft nach oben.

Können Pflegekammern hier eine Rolle spielen, die Attraktivität des Berufsbildes zu steigern? In Mecklenburg-Vorpommern wurde 2015 eine Befragung unter Pflegenden durchgeführt, die 73 Prozent Zustimmung für die Errichtung einer Pflegekammer feststellte. Planen Sie aufgrund dieses Ergebnisses hier Konkretes?
Wir werden die Notwendigkeiten und Voraussetzungen zur Einrichtung einer Pflegekammer bei uns im Land unter Einbeziehung aller Akteure prüfen. Umfragen sind dazu ein wichtiger, aber kein allein entscheidender Beitrag. Für mich steht im Vordergrund, ob Pflegekammern unter dem Strich den Beschäftigten in der Pflege etwas bringen oder nicht. Wir wollen keinen großen Verwaltungsapparat aufbauen, der dann nicht wirklich effektiv arbeitet. Das Thema Pflegekammer wird ja bundesweit durchaus kontrovers diskutiert. Wir verfolgen in MV deshalb auch mit Interesse die Arbeit der bisher existierenden Pflegekammern, wie z.B. in Rheinland-Pfalz.

Als Flächenland mit alternder Bevölkerung und sinkender Einwohnerzahl steht Mecklenburg-Vorpommern in besonderem Maße vor der Herausforderung altersgerechte Lebensräume und Pflegestrukturen zu schaffen. Wie gehen Sie dieses Projekt an?
Wir sind im Nordosten besonders vom demografischen Wandel betroffen. Der Anteil Pflegebedürftiger in MV ist überdurchschnittlich hoch. Deshalb haben wir uns frühzeitig auf den Weg gemacht, Lösungen zu entwickeln. So haben wir die Kommunen dabei unterstützt, gemeinsam mit anderen Beteiligten Pflegesozialplanungen zu entwickeln. Da geht es um Vernetzung, Pflegestützpunkte als Anlaufstellen, Beratung, Beteiligung, Kooperationen. Und wir haben im Jahr 2012 im Landtag eine Enqutekommission zum demografischen Wandel ins Leben gerufen. Von deren Ergebnissen nach vier Jahren intensiver und fundierter Arbeit profitieren wir jetzt. So sind wir z.B. dabei die Pflegesozialplanungen zu seniorenpolitischen Gesamtkonzepten weiterzuentwickeln, also weit über Pflegeaspekte hinaus.

Ganz wichtig ist zudem, dass man den demografischen Wandel nicht negativ besetzt, sondern auch als Chance begreift etwa zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts vor Ort. Wir haben unglaublich viele Seniorinnen und Senioren, die sich aktiv einbringen wollen, sich gegenseitig helfen, über einen großen Erfahrungsschatz verfügen, den wir nutzen sollten. Und ältere Menschen verfügen über etwas ganz Wichtiges für unsere Gesellschaft: Zeit, die viele für andere Menschen aufbringen möchten.

Welche dieser Ansätze haben Potenzial Blaupause für andere Bundesländer zu sein?
Ich bin überzeugt, wir haben in MV im Pflegebereich einiges zu bieten und wir sind gut vorbereitet. Unsere erfolgreiche Pflegeversorgung basiert auf einem System, das einen ausgewogenen Mix aus professionellen, familiären und ehrenamtlichen Struktur- und Hilfeangeboten beinhaltet. Um die Herausforderungen des demografischen Wandels auch zukünftig zu bewältigen, haben wir uns in Mecklenburg-Vorpommern klar darauf verständigt, dieses System zu stärken und zu optimieren. Wir verfolgen konsequent den Ansatz „ambulant vor stationär“, damit pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können. Darauf richten wir unsere Pflegestrukturen aus.

Wie gestaltet sich das konkret in der Praxis?
Wir haben bereits Ende 2015 unsere landesrechtlichen Regelungen erweitert und es damit ermöglicht, dass Betreuungs- und Entlastungsangebote für alle Pflegebedürftigen und deren pflegende Angehörige zugänglich und abrechenbar wurden. Wir beabsichtigen nun, diese Regelungen um Regelungen zur Nachbarschaftshilfe zu ergänzen. Ehrenamtliche Nachbarschaftshelferinnen und Nachbarschaftshelfer sollen ausgewählte niedrigschwellige Leistungen zur Unterstützung im Alltag (z.B. im Haushalt, Begleitung zu Arzt- und Behördenbesuchen, Einkaufs- und Haushaltswirtschaftshilfen, Kommunikation) für Pflegebedürftige im Rahmen einer Einzelbetreuung erbringen dürfen. Durch sehr niedrigschwellige Zugangsvoraussetzungen soll das ehrenamtliche Engagement im Bereich Pflege weiter befördert werden.

Auch unsere Struktur von Pflegestützpunkten im gesamten Land, die wir in den kommenden Jahren konsequent ausbauen wollen, kann ich anderen Bundesländern sehr empfehlen. Die fachlich kompetenten und geschulten Pflege- und Sozialberater in den Pflegestützpunkten beraten kostenlos und neutral rund um das Thema Pflege, begleiten Pflegebedürftige und Angehörige auf Wunsch vom ersten Kontakt bis zur Umsetzung der Lösung der individuellen Probleme, koordinieren alle für die Versorgung und Betreuung wesentlichen pflegerischen und sozialen Unterstützungsangebote. Künftig soll als zusätzliches Angebot die Wohnberatung etabliert werden.

Der DAK-Pflegereport offenbart, dass Beratungs- und Unterstützungsangebote bei Demenz-Patienten und deren betreuenden Angehörigen oft nicht ankommen bzw. nur in marginalem Umfang wahr- und angenommen werden. Welche strukturellen Veränderungen können hier Verbesserungen erzielen?
38 von 100 Pflegebedürftigen waren zum Ende des Jahres 2015 in Mecklenburg-Vorpommern vor allem infolge demenzbedingter Fähigkeitsstörungen bei der Bewältigung des täglichen Lebens auf eine dauerhafte Betreuung angewiesen.

Mir ist die Gruppe der demenziell erkrankten Menschen besonders wichtig. Jeder Mensch, der an Demenz erkrankt, ist und bleibt eine eigenständige Persönlichkeit, die von ganz individuellen Lebensumständen und Lebensgeschichten geprägt ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir die vorhandenen Versorgungsstrukturen für demenzkranke Menschen ausbauen und Unterstützungs- und Beratungsangebote, auch für die pflegenden Angehörigen, verbessern.

Auf Landesebene unterstützen wir insbesondere die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Betreuung von pflegebedürftigen Demenzerkrankten, u.a. durch Schulungen und Aufwandsentschädigungen für die ehrenamtlich Engagierten. Gemeinsam mit den Pflegekassen fördern wir darüber hinaus Modellprojekte zur Erprobung neuer Versorgungsstrukturen und -konzepte. Hier möchte ich den Aufbau des Zentrums Demenz oder des Helferkreises Schwerin nennen, die nach der Modellphase als dauerhaftes niedrigschwelliges Betreuungsangebot für Demenzkranke weitergeführt werden konnten. In einem anderen noch laufenden Modellprojekt werden der Aufbau und die Begleitung von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten in Anbindung bzw. Trägerschaft an die im Land befindlichen Mehrgenerationenhäuser erprobt. Und da ein Großteil der Betroffenen zu Hause betreut wird, müssen wir auch ein besonderes Augenmerk auf deren Situation und Umfeld legen. Daher braucht es ein Netzwerk aus unterschiedlichsten Angeboten, dass den Betroffenen und deren Angehörigen beratend und helfend zur Seite steht.

Wie sieht dabei die strukturelle Vorgehensweise aus?
Zur Bewältigung dieser Aufgabe fördert unser Land das Modellprojekt „Aufbau eines Kompetenzzentrums Demenz für Mecklenburg-Vorpommern“ in Trägerschaft des Landesverbandes der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft. Dieses Kompetenzzentrum soll in den nächsten Jahren die Versorgungs- und Beratungsstrukturen des Landes feststellen, analysieren und qualitätsgerecht erhalten. Quantitative und qualitative Lücken in der Versorgung sollen so geschlossen werden.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner will den Solidaritätszuschlag abgeschafft wissen. Der Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, Stefan Sell, wirft den Gedanken an eine partielle Verwendung dieser Steuereinnahmen für einen „nationalen Pflege-Plan“ in den Raum, in dem die Anhebung der Vergütung der Altenpflegekräfte ein wichtiger Baustein wäre. Sell bezieht sich dabei auf den Ökonom und Steuerexperten Stefan Bach, der einen Umbau des Steuersystems andenkt. Ein mögliches Mittel, steigende Personalkosten zu decken?
Kurz und knapp: Von einer Abschaffung des Soli halte ich wenig. Wir brauchen dringender denn je eine gezielte Unterstützung strukturschwacher, meist ländlicher Regionen – ganz egal ob in West, Ost, Nord oder Süd. Und wenn der Soli entfällt, habe ich die große Befürchtung, dass dann dafür nicht mehr ausreichend Mittel zur Verfügung stehen. Der Idee eines „nationalen Pflege-Plans“ stehe ich sehr aufgeschlossen gegenüber. Ich unterstütze gern gut konzipierte Initiativen, die zu einer materiellen und immateriellen Aufwertung der Pflege beitragen.

Der Pflege-TÜV befindet sich derzeit im Bearbeitungsmodus. Bedarf es dieses Instrumentes, um Qualität zu messen oder sollte das Geld in andere Bereiche der Pflege investiert werden, da jede gute Einrichtung sich durch Transparenz auszeichnet?
Qualitätssicherung und Transparenz haben für mich oberste Priorität und sollen den Verbraucherschutz stärken. Unser Pflege-TÜV heißt dabei Einrichtungenqualitätsgesetz (EQG MV). Darin ist verankert, Prüfergebnisse öffentlich bekannt zu machen. Momentan sind wir bei der Evaluation und danach bei der Novellierung des Gesetzes. Dabei geht es u.a. um die Frage, ob ambulant betreute Pflegedienste und ambulant betreute Wohngemeinschaften in den Anwendungsbereich des EQG M-V aufgenommen werden sollen. Und es geht um erweiterte Prüfrechte, um „schwarze Schafe“ aus dem Verkehr ziehen zu können. Das liegt auch im Interesse der vielen gut arbeitenden Pflegeeinrichtungen und -dienste in Mecklenburg-Vorpommern.

Wie kann die Pflege zukunftsfest gemacht werden? Gehört ein Wettbewerb von privaten und freigemeinnützigen Pflegeheimbetreibern hier dazu?
Pflege ist ein zentrales Zukunftsthema und übrigens auch ein riesiger Zukunftsmarkt. Dafür brauchen wir klare Regelungen. Oberstes Ziel muss dabei der Schutz der Interessen und Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner in den Pflege- und Betreuungseinrichtungen sowie der ambulant bzw. teilstationär betreuten Pflegebedürftigen sein. Wichtige Aufgabe von Politik ist es, zukünftig mit allen Pflegeakteuren noch stärker als bisher für ein bedarfsgerechtes Angebot an Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen sowie an betreutem Wohnen und alternativen Wohnformen zu sorgen. Und wir müssen auch die pflegenden Angehörigen, die oft aufopferungsvoll über ihre Leistungsgrenzen gehen, besser unterstützen. Dazu gehören etwa weitere praktikable gesetzliche Regelungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.     

Frau Drese, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MoPf-Redakteurin Kerstin Müller.



Ausgabe 07 / 2017