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Nicht mehr zeitgemäß

10.10.2017 15:28
Die geriatrische Versorgung steht beim 13. Barmer Krankenhausreport im Zentrum des Interesses. Die im Juli 2017 veröffentlichte Untersuchung, durchgeführt vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, zeigt die Abhängigkeit des Behandlungsergebnisses vom Bundesland. Fokussiert wird hier auf die sogenannte geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung (GFKB), die nach einer OP direkt im Akutkrankenhaus oder in einer Rehabilitationseinrichtung stattfinden kann. Der Report offenbart, dass finanzielle Fehlanreize in der Vergütung der GFKB wohl die Entscheidung über die Versorgungsform nach einer Operation beeinflussen – und das nicht unbedingt im Sinne des Patienten.

>> Die Zahlen sprechen für sich. Im Zeitraum von 2006 bis 2015 stieg die Zahl der geriatrischen Patienten um rund 80 Prozent von 1,1 Millionen auf rund 2 Millionen an. Zwischen den Jahren 2005 und 2014 gehörte die Geriatrie zugleich zu den am stärksten wachsenden Fachdisziplinen, was sich in der gestiegenen Krankenhausbettenzahl in dieser Disziplin um rund 48 Prozent manifestiert, der sich angesichts der demografischen Lage bis 2030 um weitere 32 Prozent erhöhen werde, prognostizieren die Autoren. Auch die Anzahl der Krankenhausfälle per se hat von 2006 bis 2016 um 15,3 Prozent zugenommen.

„Doch die Versorgungsstrukturen gemessen an geriatrischen Betten, Fällen und Fachabteilungen unterscheiden sich erheblich zwischen den Bundesländern“, ist im Report zu lesen, was sowohl auf historische Gegebenheiten als auch auf verschiedene länderspezifische Konzepte der geriatrischen Versorgung zurückführen sei. Denn die stationäre geriatrische Versorgung kann im Rahmen der Krankenhausplanung oder zusätzlich mittels eines offiziellen Geriatriekonzeptes organisiert werden.
Der Report prognostiziert einen 46-prozentigen Anstieg der über-70-jährigen multimorbiden geriatrischen Patienten in Deutschland bis 2050.

Um den Eintritt in die stationäre Pflege dieser Patientengruppe so lange wie möglich zu verhindern, spielt die geriatrische Rehabilitation als Kernleistung der Geriatrie eine entscheidende Rolle. In Deutschland findet diese laut SGB V entweder im Krankenhaus im Anschluss an eine akutmedizinische Behandlung – die sogenannte geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung (GFKB) – oder in stationären Rehabilitationseinrichtungen statt. Der Report offenbart zwischen 2006 und 2015 eine knappe Verdreifachung der Fälle von Geriatriepatienten, die eine GFKB erhielten. Ihre Fallzahl stieg von 80.000 Fällen 2006 auf rund 223.000 Fälle 2015.

Anhand ihrer Geriatriekonzepte und tatsächlichen Versorgungsstrukturen können laut Autoren die Bundesländer in zwei Kategorien, nämlich „viel GFKB“ und „viel Reha“ eingeteilt werden. Die regionale Variation des Anteils der Geriatriepatienten mit GFKB gemessen an allen Geriatriepatienten sei demnach sehr groß und reiche von 4,3 Prozent in Bayern bis zu 24,3 Prozent in Hamburg. Im Zeitraum von 2006 bis 2015 ist dabei in beiden Ländergruppen ein deutlicher Anstieg der Zahl der Geriatriepatienten mit GFKB zu verzeichnen gewesen. Ob diese eine derartige Behandlung erhalten, liegt an der Existenz einer Fachabteilung Geriatrie.

Denn während im Jahr 2015 27 Prozent der Patienten in Krankenhäusern mit einer Fachabteilung Geriatrie eine GFKB erhielten, waren es bei Krankenhäusern ohne eine entsprechende Fachabteilung nur drei Prozent.
Dabei ist diese Form der Versorgung im unmittelbaren Anschluss an eine Operation unerlässlich, um bestmögliche Mobilisierung zu erreichen. Allerdings, so die Ergebnisse des Reports, weist eine GFKB im Krankenhaus eine weniger große Erfolgsquote auf, wie eine in einer speziellen Rehabilitationseinrichtung durchgeführte Behandlung. So werden beispielsweise Geriatriepatienten mit einem Oberschenkelhalsbruch – der mit 15 Prozent häufigsten Diagnose dieser Gruppe, an die sich eine Rehabilitationsmaßnahme anschließt – 47 Prozent nach einer Komplexbehandlung und lediglich 40 Prozent nach einer Reha pflegebedürftig.

Die Studienautoren wähnen, dass das Vergütungssystem ausschlaggebend für die deutliche Zunahme an GFKB sein könnte. Denn dieses orientiert sich im Krankenhaus an Zeiträumen, die in 7, 14 und 21 Behandlungstage gestaffelt sind. Die Konzentration der GFKB lag 2015 mit 75 Prozent bei 14 Behandlungstagen, 2006 waren es hier nur 58 Prozent. Das kommt, den Ergebnissen zufolge, nicht von Ungefähr, denn ab Tag 14 kann die volle Pauschale abgerechnet werden. Verstärkt wird dieser Eindruck zudem durch die häufig festgestellte Verweildauer im Krankenhaus von exakt 14 Tagen.

Außerdem sei zu beobachten, dass Geriatriepatienten oft exakt so lange im Krankenhaus lägen, dass die GFKB beziehungsweise die dazugehörige DRG abgerechnet werden kann. Diese Konvergenz habe deutlich zugenommen.

Der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Prof. Dr. Christoph Straub, setzt aus medizinischer Sicht daher ein Fragezeichen hinter diese Praxis: „Die starren Kodiervorgaben für die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung sind in ihrer jetzigen Form nicht mehr zeitgemäß. Die Dauer der Behandlung sollte sich stärker am individuellen Bedarf des Patienten und an medizinischen Kriterien orientieren.“

Für Prof. Dr. Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ an RWI und Studienleiter, ist klar, dass „die massiven Steigerungsraten bei der geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung nicht rein durch den demografischen Wandel erklärbar“ sind. Das Thema sei auch ökonomisch relevant. Schließlich sei eine GFKB bei Oberschenkelhalsbruch mit 14 Behandlungstagen um 950 Euro teurer als eine klassische Rehabilitation, die je Geriatrie-Patient im Schnitt mit 3.100 Euro zu Buche schlägt. Die Studienautoren empfehlen, die Steigerungsraten der GFKB kritisch zu hinterfragen und auf Evaluation zu setzen sowie die bestehenden Vergütungsanreize weiterzuentwickeln. <<

Ausgabe 04 / 2017