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Wissenschaft stärken

09.10.2018 08:15
„Pflege bzw. Pflegewissenschaft sollte als wissenschaftliche Profession mit versorgenden und auch versorgungssteuernden Aufgaben wahrgenommen werden“, fordert Professor Dr. Karin Wolf-Ostermann als Abteilungsleiterin „Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung“ am Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen. 2014 begann sie mit dem Aufbau der Abteilung und arbeitet heute mit einem interdisziplinär aufgestellten Team an der Forschung und Entwicklung neuer Versorgungskonzepte. Warum Wolf-Ostermann ausgerechnet ihren Fokus auf die Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung gerichtet hat und auch das Projekt Akademisierung unbedingt forciert werden sollte, darüber sprach sie im Interview mit „Monitor Pflege“.

Frau Professor Wolf-Ostermann, im Jahr 2014 wurde die Abteilung 7 „Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung“ im Institut für Public Health und Pflegeforschung gegründet. Als Abteilungsleitung sind Sie mitverantwortlich für die Entwicklung neuer Versorgungskonzepte sowie deren begleitender Forschung. Warum gerade „pflegewissenschaftliche“ Versorgungsforschung?
Das Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) und die Universität Bremen haben mit der Gründung der Abteilung „Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung“ im Jahr 2004 einen zukunftsorientierten Weitblick bewiesen. Beschäftigt man sich mit der Situation der Versorgungsforschung in Deutschland und sucht nach Definitionen des Begriffes „Versorgungsforschung“, so fällt auf, dass diese zunächst sehr breit als ein grundlagen- und anwendungsorientiertes fachübergreifendes Forschungsgebiet definiert wird, die Pflege allerdings oft nicht als wesentliche und eigenständige Profession in der Versorgungsforschung wahrgenommen und benannt wird.

So war und ist es für die Wahrnehmung der Pflege als eigenständiger Akteur im Bereich der Versorgungsforschung sicherlich auch nicht förderlich, dass die Akademisierung des Berufsbildes Pflegewissenschaft in Deutschland erst sehr spät begonnen hat und nur langsam Fahrt aufnimmt.

Was kann die akademisierte Pflege leisten?
Das Fachgebiet der Pflege bzw. Pflegewissenschaft sollte dabei in allen Bereichen von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft nicht nur als Unterstützung bei körperorientierten Selbstversorgungseinbußen verstanden werden, sondern als wissenschaftliche Profession mit versorgenden und eben auch versorgungssteuernden Aufgaben. Gute Pflege benötigt dabei unabdingbar auch gute (Versorgungs-)Forschung. Eine ausreichende pflegerische Versorgung mit hoher Versorgungsqualität ist für die Zukunft eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgungsforschung kann dabei entscheidend zur Bewältigung dieser gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen.

Generell ist es allerdings nicht immer einfach, passende Förderstrukturen für eine pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung zu finden – im Sondergutachten 2014 hat der Sachverständigenrat explizit darauf hingewiesen, dass beispielsweise Bereiche wie die Pflege stärker als bislang Gegenstand von Versorgungsforschungsprojekten sein sollten. Insofern würde ich mir deutlich mehr „pflegewissenschaftliche“ Versorgungsforschung in Deutschland wünschen.

Sie evaluieren die Wirkung von bestehenden und innovativen Versorgungsstrukturen, -konzepten und -technologien. Wie sieht Ihre Bilanz der ersten vier Jahre aus?
Entscheidend beim Aufbau einer neuen Forschungsabteilung ist es sicher immer, zunächst einmal ein gutes Team zusammenzustellen, da gute Evaluation- und Forschungsleistungen ja nicht nur von Einzelnen erbracht werden, sondern darauf beruhen, dass es gelingt, vielfältige Kompetenzen in einem Team zu bündeln und weiterzuentwickeln. Dies stand sicher beim Aufbau der Abteilung am Anfang besonders im Vordergrund. 

Derzeit besteht das Team aus sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aus unterschiedlichen gesundheits- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen entstammen, so dass wir auch fachlich ein breites Feld abdecken können und die Mitarbeiter*innen auch umgekehrt davon profitieren, dass sie oftmals interdisziplinär agieren müssen und sich so ebenfalls weiterqualifizieren. Es ist sicher auch von Vorteil, dass das Institut für Public Health und Pflegeforschung und der Wissenschaftsschwerpunkt Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen zudem vielfache Kooperationsmöglichkeiten eröffnen. Insgesamt haben wir in den vier Jahren seit Gründung der Abteilung so bereits mehr als ein Dutzend Forschungsprojekte auf den Weg gebracht bzw. erfolgreich abgeschlossen.

Womit beschäftigen Sie sich hauptsächlich?
Thematisch liegen unsere Schwerpunkte dabei auf der Versorgung von Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf – insbesondere auch von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen – sowie der Weiterentwicklung alternativer Versorgungssettings wie etwa ambulant betreuten Wohngemeinschaften oder von vernetzten multiprofessionellen ambulanten Versorgungsstrukturen und Projekten zur Qualitätssicherung und -weiterentwicklung. Daneben befassen wir uns zunehmend auch mit Fragen des Zusammenspiels von Pflege und Technik bzw. Digitalisierung, da dies sicher zukünftig weiter expandierende Versorgungs- und auch Forschungsfelder sein werden. Wichtig ist uns auch die Einbindung eigener nationaler Forschung in internationale Kontexte, um die Professionalisierung pflege- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung in Deutschland weiter zu verstärken.

Sie konnten bereits rund ein Dutzend Projekte abschließen. Welche
halten Sie für besonders wegweisend?
Eine der großen Studien in der Vergangenheit war das Projekt „DemNet-D: Multizentrische interdisziplinäre Evaluationsstudie von Demenznetzwerken in Deutschland“, das in Zusammenarbeit mit dem DZNE/Universität Greifswald, dem DZNE/Universität Witten-Herdecke und der Dualen Hochschule Stuttgart durchgeführt und durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Rahmen der Zukunftswerkstatt Demenz gefördert wurde. In diesem Projekt wurden regionale Demenznetzwerke evaluiert und insgesamt jeweils mehr als 500 Menschen mit Demenz und deren Angehörige interviewt, um zu erfahren, welche Angebote von den Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen genutzt werden, welche Unterstützung diese Personen in Anspruch nehmen bzw. sie darüber hinaus benötigen und zu erfahren, wie und warum Demenznetzwerke erfolgreich arbeiten.

Welche Erkenntnisse konnten Sie aus dem Projekt gewinnen?
Die Ergebnisse haben aufgezeigt, dass Demenznetzwerke erfolgreich dazu beitragen können, die Versorgung von Menschen mit Demenz und ihrer pflegenden Angehörigen verbessern, dafür ist das Projekt 2016 auch mit dem Hufeland-Preis ausgezeichnet worden. Eine wichtige indirekte Folge des Projektes war auch, dass Demenznetzwerke seit dem 01.01.2017 im Rahmen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes finanziell gefördert werden können. Hier haben wissenschaftliche Ergebnisse also direkt ihren Niederschlag in aktuellen politischen Entscheidungen gefunden, was wir sonst eher selten beobachten.

Haben Sie ein aktuelles Beispiel für uns?
Ein aktuell sehr wichtiges Projekt ist das „Pflegeinnovationszentrum“, das in Kooperation mit der Universität Oldenburg und dem dortigen OFFIS – Institut für Informatik durchgeführt und durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird.

Ziel des bundesweit einzigen Pflegeinnovationszentrums ist es, ein Kompetenzzentrum für Innovationen in der Pflege aufzubauen, das bedarfsgerechte technische Neuerungen zur Unterstützung der Pflege entwickelt, Produkte am Markt und aus Forschungsprojekten erprobt, sowie die Ergebnisse in Laboren und „Showrooms“ für die Fachöffentlichkeit, aber auch für die Aus- und Weiterbildung zugänglich macht. Digitalisierung und technische Unterstützungslösungen werden sicherlich zukünftig ein großes Feld für die Pflege sein – auch wenn wir darauf achten müssen, dass persönliche Zuwendung nicht dadurch ersetzt wird.

Können Sie auch vom Innovationsfonds profitieren?
Im nächsten Jahr werden wir ein neues Projekt in ambulant betreuten Wohngemeinschaften in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Erlangen beginnen, das durch den Innovationsfonds gefördert wird. Ambulant betreute Wohngemeinschaften sind eine Wohnform für Menschen, auch mit Demenz, die in ihrer angestammten Häuslichkeit nicht mehr angemessen versorgt werden können, aber nicht in einem Pflegeheim leben möchten.

Bewohnerinnen und Bewohner einer Demenz-Wohngemeinschaft werden dabei durch professionelles Pflegepersonal betreut – gleichzeitig bleiben Angehörige eng eingebunden. In dem Projekt „DemWG: Reduktion des Risikos für Krankenhauseinweisungen bei Menschen mit Demenz in ambulant betreuten Wohngemeinschaften“ soll durch eine komplexe Intervention, die auf der Schulung des Pflegepersonal im Erkennen von Risiken für eine Krankenhauseinweisung,  der frühzeitigen Kontaktierung der zuständigen Fach- und Hausärzte bei gesundheitlichen Problemen und einem kognitiven und motorischen Training beruht, das Risiko für stationäre Krankenhausaufenthalte, die für Menschen mit Demenz oftmals besonders krisenhafte Belastungen mit starker Einschränkung der Lebensqualität darstellen, gesenkt werden.

Von den Ergebnissen unseres Forschungsprojektes können dann alle profitieren: die Menschen mit Demenz durch weniger Krankenhausaufenthalte und mehr Lebensqualität, was wiederum auch die Angehörigen entlastet, die Pflegefachkräfte durch verbesserte Abläufe sowie die Demenz-Wohngemeinschaften selbst durch die Erweiterung um ein innovatives Angebot.

Wie sieht es mit der Publikation von Forschungsergebnissen aus? Werden diese in ausreichendem Maße publiziert, um beispielsweise durch ihre Diskussion einen Erkenntnisgewinn für die Forschung darzustellen?
Wenn wir die Publikation von Forschungsergebnissen in einschlägigen Fachzeitschriften betrachten, so werden dort sicherlich alle wichtigen Ergebnisse aus Forschungsprozessen vielfältig publiziert. Hier haben wir aus wissenschaftlicher Sicht manchmal die Problematik, dass Studien mit einem „negativen“ Ergebnis – also Interventionen, die nicht zu dem erhofften Erfolg geführt haben – oftmals unterrepräsentiert sind, obwohl gerade auch aus solchen Ergebnissen ein großer Erkenntnisgewinn gezogen werden könnte.

Zudem ist durch eine ungeheure Zunahme von Publikationen auf allen Wissensgebieten inzwischen auch die Problematik entstanden, dass es ungeheuer zeitaufwendig geworden ist, den aktuellen Wissensstand immer im Blick zu behalten bzw. für neue Forschungsideen zu recherchieren. Um hierzu ein Beispiel zu geben: wir haben für das Projekt des Pflegeinnovationszentrums anfänglich den Stand an Publikationen zum Thema „Pflege und Technik“ für die letzten zehn Jahre gesichtet und systematisiert – hier sind wir aus den Literaturrecherchen mit mehr als 100.000 relevanten Artikeln gegangen, so dass wir neue technikbasierte Verfahren zur Sichtung und Bewertung all dieser Arbeiten anwenden mussten, da typische Vorgehensweisen des Screenings bspw. von Titeln und Abstracts im Rahmen systematischer Reviews durch mindestens zwei Mitarbeiter*innen zeitlich gar nicht mehr realisierbar sind.

Sehen Sie weitere Schwierigkeiten und wie könnte man diesen effektiv begegnen?
Eine ganz andere Problematik haben wir, wenn wir den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis betrachten. Wenn schon Wissenschaftler kaum mit dem Sichten relevanter Literatur nachkommen, wie sollen interessierte Praktiker dies leisten können? Wir bräuchten also dringend mehr qualitativ hochwertige, systematisierte und auch aktuelle Zusammenfassungen von Ergebnissen, wie dies bspw. Cochrane-Reviews leisten – womit wir wieder beim Thema Ressourcen wären, die dafür bereitstehen oder geschaffen werden müssen.

Ich halte aber nicht nur die Publikation von Forschungsergebnissen für wichtig – sondern in diesem Zusammenhang insbesondere auch den direkten persönlichen Austausch auf Konferenzen, Fachtagungen oder Fachmessen. So haben wir bspw. in Zusammenarbeit mit der Universität Lübeck begonnen, regelmäßige Fachtage zum Thema „Pflege, Versorgung & Teilhabe im Alter“ für den Austausch mit Praktiker*innen zu invitieren, die insbesondere auch auf den regionalen Austausch setzen.

Werfen wir einen Blick auf den Innovationsfonds. Dieser will Brücken zwischen den unterschiedlichen Versorgungsbereichen bauen. Kann er ein schlagkräftiges Instrument sein, mit dem sich nachhaltige Veränderungen in der pflegerischen Versorgung erzielen lassen?
Der Gemeinsame Bundesausschuss, das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, hat mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz ab 2015 den Auftrag erhalten, neue Versorgungsformen und auch Versorgungsforschungsprojekte im Rahmen des Innovationsfonds zu fördern.

Damit steht ein mächtiges Förderinstrument zur Verfügung, das von 2016 bis 2019 jährlich 300 Millionen Euro – davon 75 Millionen für die Förderung der Versorgungsforschung ausschütten konnte – und das auch ab dem Jahr 2019 hinaus mit einem Volumen von insgesamt 200 Millionen jährlich weiterbestehen soll. Ziel war und ist es, bestehende Versorgungsangebote qualitativ weiterzuentwickeln, allerdings nur aus dem der Bereich des SGB V – also der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier kann der Innovationsfonds sicherlich dazu beitragen, multidisziplinäre bzw. multiprofessionelle Ansätze – auch über Sektorengrenzen hinweg – zu fördern.

Ein großer Teil der Leistungen in der Pflege fällt jedoch in den Bereich des SGB XI – also der Sozialen Pflegeversicherung – so dass dieser Bereich von einer Förderung ausgenommen ist. Hier würde ich mir aus Sicht der Pflege wünschen, dass der Innovationsfonds eine breitere Basis erhielte, um auch eine Förderung von Projekten im Bereich des SGB XI zu ermöglichen.

Auf der Berliner Pflegekonferenz werden Sie am 8. November einen Vortrag im Fachforum „Leben mit Demenz“ halten. Welche Voraussetzungen sind denn für ein gutes Leben von Menschen mit Demenz und deren Angehörige obligatorisch?
Wenn wir uns die die derzeitige Situation in Deutschland, aber auch in vielen anderen westlichen Gesellschaften anschauen, so nimmt die Anzahl hochaltriger Menschen in unserer Gesellschaft aufgrund des Anstiegs der Lebenserwartung zu und wird dies auch weiterhin tun – und damit einhergehend steigt auch die Anzahl pflegebedürftiger Menschen, die oftmals eine geriatrietypische Multimorbidität und neuropsychiatrische Erkrankungen, wie Demenz, aufweisen.

Gegenwärtig wird die Anzahl demenziell erkrankter Menschen in Deutschland auf ca. 1,6 Millionen geschätzt, wovon etwa zwei Drittel von der Alzheimer-Krankheit betroffen sind. Für die Mehrzahl der Demenzerkrankungen, angeführt von der Alzheimer-Demenz, gibt es derzeit keine kurative Therapie, damit steht die Erkrankung im Mittelpunkt der pflegerischen Versorgung und die Erhaltung und Förderung der Lebensqualität der demenziell Erkrankten und ihrer Angehörigen rücken in den Fokus. D.h. auch, dass – anders als in klassisch kurativen Versorgungssituationen – der Fokus auf Bewältigungsstrategien und Verbesserung der Selbsthilfefähigkeit insbesondere auch von Angehörigen liegen sollte.

Was ist für die Versorgung Demenzkranker ganz konkret vonnöten?
Wir benötigen in der Versorgung von Menschen mit Demenz besonders zu Beginn der Erkrankung vielfältige, örtlich niedrigschwellig verfügbare Unterstützungsleistungen, die soziale Teilhabe, Wohlbefinden und eine möglichst hohe Autonomie erhalten – und gleichzeitig Angehörige entlasten. Hier gibt es bereits zahlreiche Ansätze und gute Praxisbeispiele, seien es Demenznetzwerke, Selbsthilfeorganisationen oder sogenannte „demenzfreundliche“ Kommunen.

Gleichzeitig sollten wir gesellschaftlich für die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und ihren Familien weiter sensibilisieren, wie dies etwa das Projekt „Demenz Partner“ der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. seit 2016 tut, um so Stigmatisierungen und Ausgrenzungen entgegenzuwirken. Daneben ist sicher die (Weiter-)Entwicklung neuer Wohn- und Versorgungsmodelle, wie bspw.  ambulant betreuter Wohngemeinschaften oder ähnlicher Versorgungsformen, zur Umsetzung einer bedarfs- und bedürfnisgerechten pflegerischen und unterstützenden Versorgung wichtig, um Alternativen zu einer klassischen vollstationären Versorgung zu bieten und so Wahlmöglichkeiten entsprechend eigener Präferenzen zu ermöglichen.

Rückblickend ist seit Beginn der Pflegeversicherung im Jahr 1994 ein weiter Weg zurückgelegt worden, der für Menschen mit Demenz und ihre versorgenden Angehörigen viele Verbesserungen gebracht hat. Zukünftig wird es sicherlich eine der vordringlichsten Aufgaben der Gesundheits- und Pflegepolitik der nächsten Jahre sein, neben der Schließung einer drohenden „Versorgungslücke“ eine bessere Vernetzung von Versorgungspraxis und -forschung zu forcieren, um flächendeckend eine qualitativ hochwertige  Versorgung zu gewährleisten und voranzutreiben.


Die neue Bundesregierung geht das Thema Pflege offensiv an. Ergreift Jens Spahn mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz die richtigen Maßnahmen, um die Pflege zu stärken? Welche Punkte sehen Sie kritisch?
Mit dem ab dem 1. August 2018 geltenden Pflegepersonal-Stärkungsgesetz sollen spürbare Verbesserungen im Alltag der Pflegekräfte durch eine bessere Personalausstattung und bessere Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege erreicht werden. Dies ist prinzipiell sehr zu begrüßen und grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung.

In der konkreten Ausgestaltung zeigen sich jedoch auch die Schwierigkeiten. So sollen beispielsweise in vollstationären Pflegeeinrichtungen ab Januar 2019 13.000 Pflegekräfte neu eingestellt werden. 13.000 zusätzliche, gut ausgebildete Pflegekräfte hört sich vielversprechend an – aber diese stehen nicht zum Stichtag plötzlich aus dem Nichts für eine Neueinstellung zur Verfügung – und sie verteilen sich dann auch noch auf bundesweit knapp 14.000 vollstationäre Pflegeeinrichtungen.

Es ist eher zu befürchten, dass Pflegekräfte aus schlechten bezahlten Bereichen wie etwa der Altenpflege vermehrt in besser bezahlte Bereiche in Krankenhäusern abwandern und es so nur zu Personalverschiebungen zwischen einzelnen Versorgungsbereichen kommt. Wir stehen derzeit vor dem Problem, dass wir – auch angesichts der demografischen Entwicklung – zu wenig qualifizierte Pflegekräfte haben und diese oft unter wenig attraktiven Rahmenbedingungen einer immer größeren Arbeitsverdichtung leiden.

So prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung bis zum Jahr 2035 eine Lücke von 500.000 Vollzeitkräften, wenn sich die Zahl der Pflegebedürftigen weiterhin wie bisher erhöht. Wir benötigen also neben allgemeinen politischen Rahmenbedingungen dringend tragfähige Lösungsvorschläge, um auch tatsächlich in der Praxis Verbesserungen zu erzielen.

Ausblick: Werden die Maßnahmen der Politik gerade noch rechtzeitig auf den Weg gebracht, um das Ruder des Frachters Pflegenotstand herumzureißen? Welches sind zwingend notwendige Navigationshilfen?
In Bezug auf den Pflegenotstand müssen wir sicherlich zwei Perspektiven betrachten. Zum einen die derzeitige Situation, die kurzfristige Lösungen erfordert. Hier kann der Weg, den der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, in seinem Papier „Mehr PflegeKRAFT“ vorschlägt, eine Lösung sein, um beispielsweise Pflegefachkräfte, die den Beruf verlassen haben, wieder in die Pflege zurückzuholen.

Auch die „Konzertierte Aktion Pflege“, bei der sich drei Ministerien der Sache annehmen, attraktivere Arbeitsbedingungen in der Pflege zu schaffen, ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Allerdings sind die Ziele und auch der vorgesehene Zeitrahmen sehr ambitioniert und die fünf geschaffenen Arbeitsgruppen sind in der Regel mit jeweils über 20 Interessenvertretern besetzt. Hier wird man abwarten müssen, wie erfolgreich diese Gruppen letztendlich arbeiten und ob Ergebnis und Umsetzung die gesetzten Erwartungen erfüllen können.

Und wenn wir den Blick etwas weiter zum Horizont schweifen lassen?
Mittel- und längerfristig werden wir aus meiner Sicht stärker zwischen verschiedenen Qualifikationsstufen in der Pflege differenzieren müssen, um so unterschiedlich qualifizierten Personen ein Arbeiten in der Pflege und Pflegeassistenz zu ermöglichen. So ist es auch dringend erforderlich, die Akademisierung der Pflege in Deutschland deutlich stärker vorantreiben, um damit zu weltweiten Standards aufschließen. Wir wissen ja aus Studien, dass von einem höheren Anteil an akademisierten Pflegekräften sowohl Patienten als auch Pflegende profitieren – insofern sollte ein Studium zukünftig nicht eine mögliche sinnvolle Fortbildung, sondern die Regel sein.

Dies bedingt jedoch aus, dass wir viel stärker in die Akademisierung der Pflege investieren müssen, da die derzeitigen Kapazitäten an Hochschulen und Universitäten insbesondere für ein primärqualifizierendes Studium bei weitem noch nicht ausreichen. Eine größere Attraktivität des Pflegeberufes auch für schulisch höher qualifizierte Personen und Übergangsregelungen bei sehr guten Ausbildungsabschlüssen in ein Studium – wie sie derzeit auch schon bestehen – können sicherlich dazu beitragen, den auch zukünftig zu erwartenden Personalmangel abzumildern und die Pflege – ebenso wie andere therapeutische oder medizinische Gesundheitsberufe – als vollwertige und gleichberechtigte Partner in Versorgungsprozessen wahrzunehmen.

Eine qualitativ hochwertige und erfolgreiche Gesundheitsversorgung kann meiner Ansicht nach nur in der Zusammenarbeit aller Gesundheitsprofessionen gelingen, in selbstverständlicher Anerkennung der jeweiligen Kompetenzen der Anderen. Auch hier ist zukünftig sicherlich noch viel zu tun, damit interdisziplinäre Zusammenarbeit und Wertschätzung der jeweils professionseigenen Kompetenzen zu etwas Selbstverständlichem wird.

Frau Professor Wolf-Ostermann, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MoPf-Redakteurin Kerstin Müller.

Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann
ist Professorin für „Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung“ an der Universität Bremen und Leiterin der Abteilung „Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung“ am Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen. Nach ihrem Studium der Statistik und theoretischen Medizin an den Universitäten Dortmund und Bochum (Dipl. Stat.) von 1983-1989 erhielt sie für die Jahre 1994-1997 ein Promotionsstipendium am Graduiertenkolleg „Angewandte Statistik“ am Fachbereich Statistik der Universität Dortmund, wo sie mit der Promotion zum Dr. rer. nat. am Fachbereich Statistik der Universität Dortmund abschloss. Sie war bundesweit an verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen (Universitäten Bayreuth, Wuppertal, Dortmund, Siegen, Köln, Marburg) als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich sozialer und gesundheitsbezogener Forschungs- und Praxisprojekte tätig und absolvierte verschiedene Auslandsaufenthalte u.a. m Rahmen des Forschungsprogramms der Europäischen Union AREHCAS – Accounting in the Reform of European Health Care Systems. Von 2004-2014 war sie Professorin für Sozial- und Pflegeforschung an der Alice Salomon-Hochschule Berlin, bevor sie im selben Jahr die Position übernahm, die sie heute bekleidet. Sie engagiert sich seit vielen Jahren in der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaften e.V. (Vorstand, Ethikkommission) und ist Mitglied verschiedener Beiräte zu Weiterentwicklungen in der sozialen Pflegeversicherung.


Ausgabe 03 / 2018