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Grenzen überschreiten

06.04.2021 19:21
Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Schlewsig-Holstein – und jetzt das bevölkerungsreichste Bundesland. Auch wenn die Pflegebe- rufekammern in Niedersachsen und Schleswig-Holstein schon fast wieder der Vergangenheit angehören, mehren sich die Zeichen, dass die Geschichte der Pflegeberufekammern in Deutschland erfolgreich fortgeschrieben wird. Am 21. September 2020 hat Sandra Postel, Leiterin Marienhaus Bildung der Marienhaus Unternehmensgruppe, sowie ehemalige Vizepräsidentin der Pflegekammer Rheinland-Pfalz, ihren Hut in den Ring geworfen und ist zur Vorsitzenden des Errichtungsausschusses der Pflegekammer Nordrhein- Westfalen gewählt worden. Im Interview mit „Monitor Pflege“ erklärt sie, welche Aufgaben nun auf das Gremium warten, wie man sich konstruktiv mit Kritikern auseinandersetzt und wie Pflege mit strukturellen Maßnahmen dem „Klatschen vom Balkon“ entkommt.

>> Frau Postel, Sie sind Grenzgängerin: In Rheinland-Pfalz an der Gründung und Installation der Pflegekammer mitgewirkt, sind Sie als Vorsitzende des Errichtungsausschusses nun maßgeblich an der Einrichtung der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen beteiligt. Worin unterscheiden sich die Rahmenbedingungen in den beiden Bundesländern?
Ja, richtig, ich wohne in NRW und leite die Marienhaus Bildung der Marienhaus Unernehmensgruppe, einem Träger mit Häusern in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Nordrhein-Westfalen. Ich bin dort für die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsfachberufe zuständig.  Das heißt, in Rheinland-Pfalz bin ich qua meiner ersten Berufsausübung als Gesundheits- und Krankenpflegerin Pflichtmitglied der Heilberufskammer; wenn sich die Pflegekammer in NRW konstituiert, dann durch meinen Wohnsitz auch dort. Im Heilberufsgesetz in NRW ist bereits hinterlegt, dass, sobald man eine Berufserlaubnis besitzt und hier seinen Wohnsitz hat, Pflichtmitglied einer Kammer ist.

Der Landespflegerat NRW hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, meinen Hut für den Vorsitz des Errichtungsausschusses in den Ring zu werfen. Diese Herausforderung, die größte Heilberufskammer aufzubauen, habe ich gerne angenommen und bin dann schließlich auch ins Amt gewählt worden. Vielleicht können wir aus Fehlern, die andernorts beim Kammeraufbau begangen wurden, lernen.

Hinter einer Kammergründung muss ein politischer Wille stehen. Wie sah und sieht die Unterstützung in Rheinland-Pfalz und NRW aus?
Das ist unglaublich wichtig, ja. Aber grundsätzlich ist der politische Wille einer Kammergründung kein Geschenk an die Pflegenden, sondern damit ist ein Mandat verbunden, ein Übertrag hoheitlicher Aufgaben. Dahinter muss die Haltung stehen, dass es wichtig ist, Pflege diese berufliche Autonomie zu geben, um die pflegerische Versorgung in einem Land zu sichern und zu verbessern. Ich habe aber sehr oft auch erlebt, dass die Haltung bei Politikern eher die ist, zu sagen „Wenn die Pflege das will, darf sie das machen“. Selbstverständlich muss die Pflege auch diese Aufgabe annehmen wollen, hoheitliche Aufgaben zu übernehmen, jedoch ist das politische Interesse und der Wunsch der Übertragung unabdingbar.

Welche Erfahrungen machen Sie dahingehend in NRW?
Es ist bemerkenswert, dass bei dem Thema parteiübergreifend gedacht wird. In NRW wurde die Novellierung des Heilberufsgesetzes für die Pflegekammer von den Regierenden, aber darüber hinaus ebenfalls von den Grünen befürwortet. In Rheinland-Pfalz hatten wir im Jahr 2016 sogar einen einstimmigen Landtagsbeschluss dazu. Durch ein solches Signal wird man sehr getragen.
Wirft man einen Blick nach Niedersachsen, wo die Mehrheit für die Kammer politisch hauchdünn war – was bis heute mit Sicherheit einer der Hauptscheiterungsgründe der Kammer dort ist – erkennt man die Bedeutung dieser Dimension.

Die Haltung der Niedersächsischen Gesundheitsministerin Cormelia Reimann zur Pflegekammer scheint nicht besonders positiv zu sein.
Ich glaube, man kann sagen, dass sie der Kammer kritisch gegenüber stand. Das führt in der Folge bei vielen Prozessen im Zuge des Aufbaus zu Schwierigkeiten. Es führt jedoch auch, und das finde ich aktuell so schwierig gerade in Niedersachsen, politisch gesehen zu Schwierigkeiten in der ja offensichtlich gewünschten Abwicklung der Kammer. Diese geht nur äußerst schleppend voran. Die übertragenen hoheitlichen Aufgaben muss das Ministerium nun wieder zurücknehmen – was wohl nicht ganz unproblematisch ist. Das Thema Weiterbildungsordnung wird dort gerade intensiv diskutiert.

Was sind nun Ihre nächsten Schritte?

Eine Heilberufskammer ist ein recht komplexes Konstrukt, das wir den Pflegefachkräften nun näher bringen müssen. Es stellen sich Fragen wie: Warum gibt es Kammern? Was bringt uns eine Kammer? Was muss ich als Pflegefachkraft einbringen? Wir müssen erklären, was genau eine Berufsaufsicht, oder eine berufsfachliche Unterstützung ist. Das ist eine kommunikative Leistung. Essenziell wird zudem sein, dass wir nicht nur die Theorie vermitteln, sondern das Konstrukt erfahrbar machen. Wenn wir die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen mitnehmen können, dann wird man sehen, welche Macht sie entfalten kann. Das wird jedoch einige Jahre dauern.
Zuerst ist ein reibungsloser Start wichtig, indem wir erste Verwaltungsprozesse sauber auf den Weg bringen, die Kammerversammlung, diese demokratische Konstituierung der Pflege, nun umsetzen.

Wie rekrutieren Sie potenzielle Mitglieder für eine Kammerversammlung?
Derzeit beschäftigen wir uns mit dem Thema der Meldeordnung. Die Aufgabe des Errichtungsausschusses, der aus 38 berufenen Personen besteht, ist es jetzt, demokratische Strukturen so aufzubauen, dass es nachher keiner Berufung mehr bedarf, sondern die Mitglieder gewählt und damit demokratisch legitimiert sind. Und das ist die Herausforderung der nächsten zwölf Monate. Das Heilberufsgesetz sieht vor, dass wir zum 1. April 2022 die Kammer gegründet haben und sich die Kammerversammlung aus hundert Kammermitgliedern konstituiert. Dafür müssen wir binnengesetzliche Grundlagen schaffen. Als Grundlage dient da einerseits das Heilberufsgesetz, wir brauchen jedoch auch eine Hauptsatzung. Die haben wir erstellt. Darüber hinaus haben wir eine Entschädigungsordnung geschrieben, damit die Ehrenamtler überhaupt ihre Tätigkeit aufnehmen können. Die Meldeordnung haben wir gerade verabschiedet. Sie befindet sich derzeit in der Normenprüfung des Ministeriums, das unsere Rechtsaufsicht darstellt.

Und wenn das Ministerium die Meldeordnung überprüft und veröffentlicht hat?

Dann dürfen wir die Arbeitgeber anschreiben. Das ist im Heilberufsgesetz hinterlegt und selbstverständlich datenschutzrechtlich geprüft. Wir sind dazu legitimiert, die ca. 13.000 Arbeitgeber in Nordrhein-Westfalen zu kontaktieren und sie zu bitten, uns die Daten ihrer Arbeitnehmer, die eine pflegerische Berufserlaubnis haben, zu melden. Diese dürfen wir als zukünftige Mitglieder anschreiben, damit die Registrierung abgeschlossen werden kann. Diese findet nicht über die Arbeitgeber statt; das Heilberufsgesetz ist hier sehr strikt. Es ist ein Individualgesetz. Wir müssen und wollen auf unsere Mitglieder direkt zugehen, und vor diesem Schritt stehen wir nun. Mit der Registrierung werden die Kolleginnen und Kollegen ebenso ins Wählerverzeichnis aufgenommen, das wir voraussichtlich im Herbst aufbauen können.

Die Erstellung der Wahlordnung wiederum ist Aufgabe des Ministeriums. Und über all dem schwebt die ganze Zeit die Herausforderung einer gelingenden Kommunikation, mit der wir informieren, aber auch dazu auffordern möchten, sich mit dem großen Thema Kammer auseinanderzusetzen. In erster Linie wollen wir unseren Mitgliedern, den Pflegefachpersonen in Nordrhein-Westfalen, aber auch mit Arbeitgebern, mit politischen Stakeholdern und mit den Personen, die sich im weiteren Umfeld dafür interessieren, ins Gespräch kommen.

Haben Sie sich eine Strategie überlegt, wie Sie Ihre Klientel am besten erreichen? Denn nach dem bisherigen Eindruck der Pflegekammerentwicklung scheint hier der Schlüssel zum Erfolg zu liegen.

Absolut. Und wir sind mittendrin in der Entwicklung der Kommunikationsstrategie. In Rheinland-Pfalz hat ein gutes Konzept dazu geführt, dass die Kammer von den Mitgliedern und der Politik sehr gut akzeptiert ist. Wir haben hier in Nordrhein-Westfalen natürlich aktuell nochmal zwei andere Herausforderungen, die wir 2016 in Rheinland-Pfalz nicht hatten. Zum einen ist die Kammer fünfmal größer, sodass die Durchdringung besonders bedacht werden muss. Und das zweite ist natürlich, dass wir uns in Zeiten von Corona befinden. Der übliche und unglaublich effektive direkte Kontakt auf Veranstaltungen, auf Stationsleitersitzungen, vor Ort in den Altenheimen, in den ambulanten Diensten ansprechbar zu sein, das ist momentan nicht möglich. Deswegen müssen wir hier sehr stark auf andere Kanäle setzen. Aber in erster Linie geht es uns darum, in einen offenen Dialog zu treten, uns auch kritischen Fragen zu stellen und mit politischem Engagement Zeichen zu setzen.

An was denken Sie da konkret?
Wir können jetzt zum Beispiel in die Impfdebatte miteinsteigen. Ich habe beispielsweise kürzlich an den Impfdialogen mit dem Gesundheitsminister teilgenommen und war auch bei entsprechenden Presse-Briefings anwesend. Darüber hinaus haben wir eine Stellungnahme an das Ministerium zum Thema Teststrategien in Altenheimen gesendet. Ebenso befinden wir uns gerade auch im Austausch zu dem Thema Öffnungsstrategien. Das ist ein starkes Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, schnell zu öffnen, weil diese Menschen in ihrer letzten Lebensphase Kontakt brauchen, aber gleichzeitig geht davon eine Gefährdung aus. Ich finde, dieses Spannungsfeld zwischen Schutz und sozialer Teilhabe müssen wir von Seiten der Pflege gestalten, was wir dem Ministerium in der Form mitgeteilt haben. Pflege muss an die Krisentische, Pflege muss in die Gespräche miteingebunden werden und ganz gewiss diese Mitbestimmungsoption auch selbstbewusst einfordern. Das findet aktuell bereits statt.

Wie gehen Sie mit kritischen Stimmen um?
Ein Format, das in dieser Hinsicht gut angenommen wird, ist der Kammerdialog. Es ist auf Facebook durch den Austausch mit Kammerskeptikern, -gegnern und -kritikern entstanden, die mit uns Kontakt aufgenommen und dann kontinuierlich über Social Media mit uns kommuniziert haben. Daraus ist die Idee erwachsen, gemeinsam eine Diskussionsplattform in Form eines wiederkehrenden Veranstaltungsformats zu initiieren. Wir haben ein gemeinsames Organisationsteam mit dem wir die Kammerdialoge alle fünf Wochen vorbereiten und die Themen schärfen, beziehungsweise die Konfliktlinien herausarbeiten. Und diese Themen, die werden dann einfach viel spitzer, als wenn wir nur sagen, wir organisieren eine Informationsveranstaltung und wir laden dazu auch mal einen Gegner ein. Im ersten Kammerdialog ging es um die Herausforderungen im Gesundheitswesen, im zweiten um Kammer und Transparenz, und bei der dritten Veranstaltung sind wir der Frage „Was kostet mich die Kammer?“ nachgegangen.

Das klingt nach einem authentischen Format...
... welches auch wirklich großen Spaß macht. Wir waren zu Beginn durchaus skeptisch, aber es ist wichtig, sich von der eigenen Erwartung frei zu machen, jegliche Fragen bis in Detail beantworten zu können. Wir befinden uns im Aufbau. Das ist ein demokratischer Prozess, an dessen Entwicklung die Fachkräfte optimalerweise partizipieren. Viele Dinge, wie zum Beispiel der Kammerbeitrag, werden von der Kammerversammlung demokratisch entschieden. Selbst wenn ich wollte, könnte ich heute nicht sagen, wie hoch der Kammerbeitrag ist, weil ich nicht mandatiert bin, das festzulegen.

Die Diskussionen finden in einem disziplinierten Setting statt, das der Maxime „erst mal zuhören und akzeptieren“ folgt. Es geht nicht darum, sich gegenseitig zu überzeugen, sondern erst mal zu hören, was ist es denn, was gerade stört oder was der andere will. Die Gesprächsrunden sind immer mit der gleichen Zahl an Gegnern und Befürwortern ausgestattet, die sich mit einem klaren Zeitrahmen zu Wort melden dürfen. Also zwei Sieben-Minuten-Statements sowie zwei zusätzliche Diskutanten. Zudem gibt es eine externe und neutrale Moderation, die von beiden Seiten beauftragt ist. Ich kann sagen, dass es ein unheimlich respektvoller Umgang ist und ich habe das Gefühl, das wirkt sich sofort aus. Wir haben parallel einen Chat laufen, an dem sich alle angemeldeten Kolleginnen und Kollegen beteiligen können.

User können also auch Fragen stellen?
Ja, sicher. Beim letzten Mal kam zum Beispiel diese Frage: „Seid Ihr eher für einen Staffelbeitrag oder für einen Einheitsbeitrag?“ Und ich habe in der Tat da viel gelernt, zum Beispiel, dass doch der Gerechtigkeitssinn, dass nicht alle das Gleiche bezahlen, sehr ausgeprägt ist. Also lieber ein Staffelbeitrag, das wurde durch den Chat sehr deutlich. Diese Diskussionen zu führen heißt für uns auch Wertvolles lernen. Das halte ich für unglaublich wichtig. Kommunikation ist keine Einbahnstraße.

Das klingt, als fänden die Stimmen der Pflegekräfte Gehör. Das ist anscheinend ja nicht überall so. Blickt man nach Baden-Württemberg, wo  Sozialminister Manfred Lucha – trotz eines Votums der Pflegekräfte für die Installation einer Pflegekammer – das bereits angelaufene Gesetzgebungsverfahren für eine Landespflegekammer gestoppt hatte. Er argumentierte, dass die Konzentration der fachlichen und gesellschaftlichen Kräfte seit März 2020 bei der Bewältigung der Corona-Pandemie liege und die Fachkräfte durch das hohe Arbeitsaufkommen keine Zeit hätten, sich adäquat mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Wissen Sie, eigentlich ist ja nie der richtige Zeitpunkt für diesen Change. Ich habe die Diskussion in Baden-Württemberg natürlich sehr genau verfolgt und obwohl Herr Lucha selbst Krankenpfleger ist, scheint er einer Pflegekammer kritisch gegenüber zu stehen. Es ist schwierig, die Situation aus der Ferne zu bewerten, und vielleicht haben sowohl das Pandemiegeschehen als auch der Wahlkampf viele Ressourcen gebunden. Die Stimmen, die sich nach der Aussetzungsentscheidung zu Wort gemeldet haben, waren allerdings eher aus der Politik, dem Unternehmerlager und aus der Gewerkschaft Verdi zu vernehmen. Ich habe wenige Pflegende gehört, die sich positiv darüber geäußert haben. Meiner Meinung nach war das ein klassisches Beispiel der Fremdbestimmung: Pflege schafft das nicht, deswegen treffen wir die Entscheidung, dass das Kammerthema jetzt nicht konkret wird.

Ich verstehe, dass jetzt erst mal die Regierungsbildung ansteht, aber ich finde dann ist es wirklich an der Zeit, dem positiven Befragungsergebnis Rechnung zu tragen und in die Umsetzung zu gehen. Ich möchte da keineswegs uns Pflegende aus der Verantwortung nehmen. Wenn es irgendwo hakt, müssen wir uns gleichermaßen fragen, ob wir nicht hätten vehementer agieren müssen. Das gilt ja für uns in NRW schon dreimal, das ist mir durchaus bewusst.

Da steht man im bevölkerungsreichsten Bundesland sehr wahrscheinlich im Fokus. Aber schauen wir einmal nach Bayern, wo sich eine Interessenvertretung für Pflegende gebildet hat, die eine andere Struktur aufweist. Die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, keine zu entrichtenden Pflichtbeiträge sowie beispielsweise auch die Tatsache, dass nicht nur Examinierte Mitglied werden können, werden hier als Vorteile hervorgehoben. Ist das nicht grundsätzlich ein guter Gedanke, alle Pflegenden mitzunehmen?
Da möchte ich eine Gegenfrage stellen: Haben Sie denn Kenntnis darüber, wie viele Kolleginnen und Kollegen aus der Pflege und auch aus der Pflegehilfe sich bei der Vereinigung der Pflegenden Bayern schon haben registrieren lassen? Ich erhalte dazu nämlich keine offiziellen Informationen. Auch eine Entschädigungsordnung kann ich im Netz nicht finden. Ich glaube, da muss man genau hingucken, ob das mit einer Heilberufskammer vergleichbar ist.

Inwiefern?
Nach meinem Kenntnisstand ist – wenn es darum geht Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel über Fortbildungsangebote oder politische Stellungnahmen zu veröffentlichen – die Vereinigung nicht autonom, d.h. das Ministerium kann durch sein Vetorecht eingreifen. Und ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber die von der bayerischen Gesundheitsministerin a.D., Melanie Huml, eingeführte sogenannte Körperschaft des öffentlichen Rechts hat keine hoheitlichen Aufgaben übertragen bekommen, was jedoch ein konstitutives Merkmal dieser Rechtsform ist.  Die Vereinigung darf also nicht entscheiden, wie Pflege definiert wird. Eine Berufsordnung wird in Bayern nicht durch die Pflege bestimmt, eine Weiterbildungsordnung ebenso nicht. Sie darf informieren, ist in Gremien vertreten und darf Fortbildungen anbieten. Das ist schön. Und die dürfen auch Fortbildungen anbieten. Aber sie darf nicht entscheiden, was Pflege genau ist und welche Anforderungen zu erfüllen sind. Damit können sie natürlich auch pflegerische Leistungen zu guter Letzt nicht mit einem Normenrecht festlegen. Das ist der Unterschied zwischen einer Kammer und der Vereinigung der Pflegenden in Bayern. Ich finde jede Form der Organisation gut. Es erinnert mich ein bisschen an den Dachverband der Pflegeorganisationen früher in Rheinland-Pfalz. Die wurden auch vom Land gefördert. Das war auch sehr, sehr wichtig. Und aus diesem Dachverband ist dann zu guter Letzt die Kammer entstanden. Vielleicht braucht es so eine Art von Vorform.

Um noch einmal auf die Mitglieder zu sprechen zu kommen. Halten Sie die Aufnahme von Nicht-Examinierten in die Pflegeberufekammer für sinnvoll?
Absolut. Der Errichtungsausschuss hat bereits den Wunsch geäußert, dass wir die Pflegeassistenten und Pflegehilfskräfte, das heißt, alle die mit einer Berufserlaubnis im ein- oder zweijährigen Kompetenzbereich, als freiwillige Mitglieder mit in die Kammer integrieren. Das befürworte ich auch, denn ich glaube, dass sie ebenfalls ein Sprachrohr und wir auch einen guten Austausch brauchen. In der Tat muss man aber hierbei sehen, dass ein Heilberufsgesetz nun mal Heilberufler verpflichtet, in eine Kammer einzutreten. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2003 ist die Pflegehilfe nicht als Heilberuf deklariert. Das gilt bei den Ärzten ja in gleicher Form: Arzthelferinnen und Arzthelfer oder operationstechnische Assistenten sind in der Ärztekammer keine Mitglieder.

Was heißt das für die Kammerpraxis?
Das heißt, rein rechtlich können Sie in einer Kammer nicht die Pflegehilfskräfte mit der gleichen Art verpflichten, in eine Kammer einzutreten, wie die Pflegefachkräfte. Das ist juristisch einfach nicht gegeben und ich halte es auch nicht für sinnvoll. Was wir aber brauchen, ist eben ein Beirat der Pflegehilfskräfte. Ich finde es gut, wenn genau wie in Rheinland-Pfalz die Möglichkeit besteht, dass über die Ausbildung der Pflegehilfskräfte innerhalb der Pflegekammer mitbestimmt wird und dass die sich natürlich jederzeit melden können und freiwilliges Mitglied werden dürfen.

Wenn jetzt eine Pflegefachkraft an Sie herantritt und wissen will: „Was kann die Kammer für mich tun?“, was entgegnen Sie da?

Der erste große Benefit der Kammer liegt darin, gut zu informieren und zu vernetzen. Da haben wir in unserem Berufsstand außerordentlichen Nachholbedarf. Nur wenn Pflegefachpersonen Informationen zur Verfügung gestellt bekommen, ist es überhaupt möglich, sich in seinem Beruf auch zu optimieren. Ein Kammermitglied kann berufsfachliche und berufsrechtliche Beratung abrufen, was in Rheinland-Pfalz unheimlich intensiv genutzt wurde. Wir hatten in der Spitze bis zu dreieinhalbtausend Anrufe am Tag.

Daneben ist es für einen Berufsstand außerordentlich von Vorteil,  wenn er gut organisiert ist und seine Interessen politisch vertreten werden. Um diese Interessen optimal vertreten zu können, braucht man einen guten Überblick über die Berufsgruppe. Die gibt es ohne Pflegekammer nicht.

Ohne Register können wir Zahl und Altersstruktur des Fachkräfte nicht übersehen, was in der Folge bedeutet, dass wir nie richtig in die gesundheitspolitische Steuerung und Fachkräftesteuerung reingehen, Missstände aufdecken und beheben können. Eine politische Interessenvertretung ist essenziell, um den Berufsstand nach vorne zu bringen; genauso wie die Selbstbestimmung in Sachen Weiterbildungs- und Berufsordnung. Das sind Themen, die sich solidarisch für alle Pflegefachkräfte nachher auch auszahlen werden, mittelfristig, aber die natürlich nicht eins zu eins sofort spürbar sind. Doch darin liegt die eigentliche Stärke einer Kammer – damit wir hier wirklich mal den Berufsstand vom Kopf auf die Füße stellen.

Denken Sie, dass die pandemische Situation und die Offensichtlichkeit des Bedarfs und der Bedeutung der Pflege ein Trigger sein kann, um sich als Berufsstand stärker zu positionieren und die eigenen Bedarfe besser durchzusetzen?
Ja, allerdings nicht ohne die Kammer. Das Klatschen vom Balkon, oder wenn wir uns diese unsägliche politische Aktion der Lavendelpflanzen vor Krankenhäusern ansehen, dann macht das ja deutlich, dass Wertschätzung kein Selbstläufer und man sich diese noch so sehr wünschen kann – das Gegenüber wird das aber nicht umsetzen. Wir müssen klare Forderungen formulieren und auch die Operationalisierung herstellen. Ich bin gerade sehr erfreut darüber, dass der Ruf nach viertausend Euro Bruttoeinstiegsgehalt für Pflegefachpersonen von Verbänden und Organisationen so gut aufgenommen wurde. Ich finde es hervorragend, dass wir da auch Petitionen haben, die diese Thematik aufgreifen. Wenn wir das nicht operationalisieren, wenn wir nicht als Pflegekräfte sagen, das brauchen wir, um diese Leistung gut erbringen zu können, dann werden wir stattdessen wieder Lavendeltöpfe kriegen.

Frau Postel, vielen Dank für das Gespräch. <<

Sandra Postel
absolvierte von 1994 bis 1997 die Krankenpflegeausbildung in Bad Honnef und Königswinter. War von 1997 bis 1999 im Städt. Klinikum Holweide. Dann von 1999 bis 2002 im CURA Krankenhaus später im Altenheim Haus Katharina. Von Okt. 2004 bis Jan. 2009 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung, Köln, und übernahm im März 2008 die Leitung der Stabsstelle Pflege bei der Marienhaus Holding GmbH Waldbreitbach. Von Jan. 2015 bis Dez. 2015 war sie Stellvertretende Vorsitzende der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz (Gründungsausschuss), bei der sie im März 2016 zur Vizepräsidentin gewählt wurde. Seit April 2016 ist Postel Leiterin Marienhaus Bildung der Marienhaus Unernehmensgruppe. Im September 2020 wurde sie zur Vorsitzenden des Errichtungsausschusses der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen  gewählt.

Ausgabe 01 / 2021