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„Menschen Stärke geben“

03.12.2018 16:12
Finnland, Kanada, Brasilien, Slowenien – das Team um Kerstin Hämel war viel unterwegs, um zu eruieren, wie ländliche Räume die Problemstellung der flächendeckenden Versorgung organisieren. Die Professorin von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld führte mit einem wissenschaftlichen Blick auf internationale Lösungen in die Thematik ein und eröffnete damit die Best-practice-Vorstellungen im Fachforum „Flächendeckende Versorgung im ländlichen Raum“ auf der Berliner Pflegekonferenz. Ein weiterer Schwerpunkt lag bei der Prävention.

>> „Wenn wir von Pflege und Versorgung sprechen, dann ist die Fragestellung: Wie können wir Menschen mit komplexen gesundheitlichen Problemlagen unterstützen?“ Die Komplexität ergebe sich nicht erst durch Pflegebedürftigkeit, sondern bereits bei einer chronischen Erkrankung oder Multimorbidität. „Komplexe gesundheitliche Problemlagen, erfordern komplexe Lösungen seitens des sozialen Gesundheitssystems“, konstatierte Hämel und verwies auf die sich verändernden Familienstrukturen, die vor allem im ländlichen Raum ursprünglich familiale Organisationsstrukturen wegbrechen ließen.

Dieser Umstand verlange die Beschäftigung mit der Frage, wie ambulante Dienste zukünftig aufgestellt sein müssten. Als ausgewiesenes Ziel formulierte Hämel das Vorantreiben der Ambunlantisierung, sodass eine wohnortnahe Primärversorgung sichergestellt werden könne. Gesundheitliche Ungleichheit und unterschiedliche Zugangschancen, die es zu egalisieren gelte, hob Hämel in diesem Zuge noch einmal deutlich hervor. Denn sozial benachteiligte Menschen würden früher chronisch krank und stürben früher. Auch das Thema der Mobilisierung von Gesundheits-Fachkräften stehe ganz oben auf der Agenda. Das betreffe jedoch für den ländlichen Raum nicht nur die Pflege, sondern auch Mediziner. Die Bielefelder Wissenschaftlerin plädierte in der Folge für die Implementierung lokaler Gesundheitszentren und präsentierte ein Modell aus dem Jahr 2014, mit dem in strukturschwachen Gebieten Versorgung gebündelt werden könne.

Derzeit liefen, so Hämel, unterschiedliche Projekte, um die Organisation multiprofessioneller Zentren auf den Weg zu bringen und unter einem Dach möglichst unterschiedliche Dienste miteinander zu verbinden. Es bestehe auch die Möglichkeit, Langzeitpflege dort zu inkludieren, wie es sie beispielsweise in Finnland in Form einer kleinen stationären Einheit gebe. Präventive, curative und rehabilitative wie auch soziale und pfle- gerische Angebote befänden sich hier unter einem Dach und steuerten auch die aufsuchende Gesund- heitsarbeit. Der Zugang zu schwer erreichbaren, vulnerablen Bevölkerungsgruppen sei damit leichter, so Hämel.

Allem voraus gehe natürlich eine individuelle Bedarfsanalyse der Kommune, die richtigen Angebote zu entwickeln, die dann patientenorientiert organisiert sein sollen, soll heißen, es gibt nur eine zentrale Anmeldung, von wo aus die Angebote für den einzelnen Patienten orchestriert werden. Doch welche Rolle spielt die Pflege in diesem Modell? „Die Gruppe der Pflegekräfte spielt in diesem Setting zahlenmäßig die größte Rolle“, so Hämel. „International sind die Pflegekräfte oft akademisch ausgebildet und übernehmen als Community Nurses weitreichendere Aufgaben in der ambulanten Versorgung.“ Dazu gehöre die Gesundheitsaufklärung an Schulen oder die Durchführung von gesundheitsfördernden Angeboten.

Auch im klinischen Bereich weist die Pflege hier international partiell ein erweitertes Kompetenzfeld auf. „Das sind Entwicklungen, die in diversen Ländern unterschiedlich weit fortgeschritten sind und die meist aus dem Ärztemangel resultieren“, erklärte Hämel und umschrieb das Aufgabenfeld beispielhaft mit dem Anordnen und selbstständigen Auswerten von Bluttests, dem Durchführen von Ultraschalluntersuchungen und teilweise – wie in Skandinavien – auch die Hilfs- und Medikamentenverordnung. Eine Tatsache, die die Attraktivität des Pflegeberufs durchaus zu steigern vermag, jedoch auch die konkrete Auseinandersetzung mit der Aufga- benverteilung fordere; eine Herausforderung vor allem im klinischen Bereich, so Hämel.

Alles in allem stellten Lokale Gesundheitszentren eine Stärkung der Grundversorgung dar, und seien somit eine attraktive Einrichtung. Ein prägnantes Beispiel demon- strierte Landrat Klaus Peter Schellhaas aus dem Kreis Darmstadt-Dieburg. Die Kommune, die aus 23 Städten und Gemeinden und damit aus knapp 300.000 Einwohnern besteht, hat selbst ein Konzept zur Zukunft der medizinischen Versorgung und Pflege entwickelt, welches jüngst auch eine Förderzusage der Robert Bosch Stiftung erhielt: Das „supPORT“-Programm (Auf dem Weg zu Patientenorientierten Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung) zeichnet dabei beispielhafte, lokale Gesundheitsinitiativen aus, ist mit insgesamt 800.000 Euro dotiert und beinhaltet überdies Vernetzungstreffen, Fachtagungen und eine Beratung durch Gesundheitsexperten.

Schellhaas klassifizierte den Landkreis Darmstadt-Dieburg als suburbanen Raum, in dem akuter Mangel an ambulant ärztlicher Versorgung bestehe. Insgesamt zählte der Landrat mittlerweile fünf im Landkreis installierte Zen- tren der medizinischen Versorgung (MVZ) auf. Im Jahr 2014 fiel der Entschluss, das ambulante Versor- gungskonzept der Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Von Anfang an, so der Ladrat, nahm die Kom- mune als Träger eine sehr hohe Akzeptanz der Menschen für diese Einrichtung wahr. Nach drei Jahren resümierte die Kommune, ob ein Engagament über die ärztliche Versorgung hinaus sinnvoll sei. Dar- aufhin habe man ein „Versorgungskonzept 2025“ geschrieben, welches mit der Unterstützung der Optimedis AG entwicckelt wurde. Das MVZ in Ober-Ramstadt soll demnach zu einem sogenannten Primärversorgungszentrum (PORT) weiterentwickelt werden, „um Versorgungsressourcen effizient einsetzen zu können“, erklärte Schellhaas. Darin sollen die 6 angestellten Ärzte, durch nicht-ärztliche Berufsgruppen – eine Weiterbildungsassistentin, eine NäPa (Nichtärztliche Praxisassistentin) und eine Casemanagerin – entlastet werden, was insbesondere die Versorgung geriatrischer Patienten erleichtere.

Unterschiedliche Versorgungspfade adressierten genaue Zielgruppen. Schellhaas nannte den Prä-Diabetes-Pfad sowie den kürzlich aufgenommenen geriatrischen Pfad. Menschen, die er im Kran- kenhaus auf der geriatrischen Station antreffe, könne man abholen, bevor sie dieses Stadium erreichten. „Und zwar in einem Netzwerk. Das finktioniert wirklich nur, wenn wir viele Akteure dabei mitnehmen“, konstatierte der Landrat. Zu nen- nen seien hier das Krankenhaus, der kommunale Pflegestützpunkt, und vor allem präventive Angebote vor Ort. Zukünftig werde es einen Fach- sowie einen regionalen Beirat geben, um alle Ressourcen für die Weiterentwicklung zu nutzen. „Das Ganze ist flächendeckend machbar, das Ganze ist eine Blaupause“, so Schellhaas und freute sich über den Rückenwind durch die Robert Bosch Stiftung: „Die Aufnahme in das Pro- gramm der Robert Bosch Stiftung ist eine Bestätigung unserer zukunftsorientierten Gesundheitspolitik.“

Auf Prävention setzen

Mit Blick auf den demografischen Wandel erhält das Thema Prävention immer größeres Gewicht und war somit auch Thema eines Fachforums auf der Berliner Pflegekonferenz. Anke Tempelmann vom AOK-Bundesverband stellte das auf vier Jahre angelegte Projekt „QualiPep“ (Qualitätsorientierte Prävention und Gesundheitsförde- rung in Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe) vor, welches im Jahr 2017 startete und als Forschungsförderprojekt im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführt wird. Erklärtes Ziel ist es, einen Qualitätsrahmen für Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung in teil- und vollstationären Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliede- rungshilfe zu entwickeln, zu pilo- tieren und umzusetzen. Desweiteren soll die Gesundheitskompetenz der Bewohner und der Beschäftigten dieser Einrichtungen gestärkt sowie die betriebliche Gesundheitsförde- rung in den Einrichtungen qualitäts- gesichert weiterentwickelt werden. Katja Dierich, Geschäftsführerin des QVNIA e.V., präsentierte mit ihrem Vortrag „Bewegungsförderung in Pankower Pflegeeinrichtungen“ sodann ein Beispiel aus der Praxis, das auf dem im Jahr 2015 entwickelten „Lübecker Modell Bewegungswelten“ fußt. Ziel ist die Implementierung niedrigschwelliger Bewegungsangebote in Pflegeeinrichtungen sowie Einrichtungen des altersgerechten Wohnens, um die Gesundheit und Lebensqualität älterer Menschen 65 + zu verbessern und zu erhalten. Die geistige und körperliche Aktivierung durch das Aufgreifen bekannter Bewegungsabläufe wie beispielsweise dem „Äpfel pflücken“ würde ergänzt durch die Stärkung sozialer Kontakte, so Dierich. Zudem soll mit dem Projekt eine Öffnung der Einrichtungen in den Sozialraum gefördert werden.

Mit dem Projekt „Froach“ erhielt dann auch ein digitales Übungsprogramm eine Bühne. Über die Nutzung von Tablet oder Bildschirm können Pflegebedürftige ortsunabhängig motorische Übun- gen der animierten „Froach“-Figur nachempfinden. Das Unternehmen Froach GmbH ist 2011 mit dem Ziel betrieblicher Gesundheitsprävention gestartet, dehnt seine Aktivitäten jedoch zunehmend aus. Weitere Einrichtungen gewinnen will auch der seit 15 Jahren existierende Verein Rote Nasen e.V. Er stattet Clownvisiten in teil- und vollstationären Einrichtungen als Präventionsleistung nach §5 SGB XI ab. Nach Angaben des Vereins ist ein professionell künstlerischer Hintergrund der ein- gesetzten Clowns obligatorisch, wie auch psychologische und medizinsche Fortbildungen, um optimal auf die Zielgruppe eingehen zu können. „Unsere Bühne ist der zwischenmenschliche Raum.“ <<

Ausgabe 04 / 2018