Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2018 Gute Bedingungen schaffen

Gute Bedingungen schaffen

29.03.2018 12:31
Eine übergreifende Pflegeberichterstattung in Deutschland fordert Professor Dr. Michael Isfort, Professor für Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung an der Katholischen Hochschule NRW sowie stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP), und kann mit der Studie „Pflege-Thermometer 2018“ selbst einen Teil dazu beitragen. Doch noch zu selten werden seiner Meinung nach Expertise und Beobachtungen von Einrichtungen und Akteuren systematisch erfasst. Die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung zeigen beispielsweise, dass nach Einführung des PSG II nur bei der Hälfte der Einrichtungen zusätzliche Personalstellen realisiert werden konnten, gleichwohl dies intendiert war. Wie die Pflegeeinrichtungen mit dem Problem fehlender Personalressourcen umgehen und an welchen Stellschrauben Gesellschaft, Politik und Wissenschaft drehen können, erklärt Isfort im Interview.

>> Herr Professor Dr. Isfort, auf dem Deutschen Pflegetag 2018 haben Sie die Ergebnisse der Studie „Pflege-Thermometer 2018“ vorgestellt, die durch das DIP unter Ihrer Leitung durchgeführt wurde. Antworten von 1.067 Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung in der stationären Pflege sind in die Studie eingeflossen. Was sind die Kernergebnisse? Und: Gibt es für Sie Überraschungen?
Ein ganz zentrales Ergebnis ist sicherlich die Deutlichkeit, mit der der Fachkräftemangel untermauert werden kann. Wir gehen alleine in diesem Sektor von rund 17.000 derzeit offenen und sofort zu besetzenden Stellen aus. Dass der Eintritt ins Rentenalter der Hauptfluktuationsgrund ist, hat uns erstaunt. Er zeigt aber, wie hoch die Ersatzbedarfe in Zukunft sein werden oder schon sind, denn die demografische Entwicklung macht auch vor den Pflegenden selbst nicht Halt.

Wie begegnen die Pflegeeinrichtungen denn diesem Problem?
Die Einrichtungen sind sehr aktiv bei der Mitarbeitersuche, sie nutzen vielfältige Möglichkeiten. Sie bieten z.B. flexible Arbeitszeiten für Pflegende mit Kindern an und vieles mehr. Alleine, all das reicht nicht und so steigen für die vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter u.a. auch die arbeitsplatzbezogenen Belastungen weiter an. Mehr als jede fünfte Einrichtungsleitung gab darüber hinaus an, in den letzten drei Monaten aus Personalmangel selber einen Belegungsstopp ausgesprochen zu haben.

Ist Ihnen bei den Ergebnissen denn auch ein Aspekt besonders positiv aufgefallen?
Positiv hat uns überrascht, dass über 40 Prozent der Leitungen angaben, sich aktiv bei der Integration von Flüchtlingen in das Arbeitsfeld der stationären Versorgung zu beteiligen. Das zeigt, welche Bedeutung die stationäre Pflege auch als gesellschaftliche Kraft hat.

Es ist die neunte Befragung dieser Art, mit der Sie 2001 begonnen haben. Wie hat sich das Studiendesign seit dem Jahr der ersten Publikation 2002 verändert?
Das „Pflege-Thermometer“ ist ja so etwas wie eine „Dachmarke“. Es werden alle zwei Jahre sehr unterschiedliche Felder der Pflege und Versorgung beleuchtet. Daher wechseln die Inhalte und Fragen, die wir auch gemeinsam mit Akteuren aus dem Feld entwickeln. Vielfach wird ja über Pflege geredet, aber zu selten werden die Einrichtungen und Akteure selbst dazu befragt. Es fehlt eine übergreifende Pflegeberichterstattung in Deutschland – eigentlich unverständlich, denn es ist der wichtigste Versorgungsbereich. Nur die Experten vor Ort können aber die relevanten Einschätzungen zu den Wirkungen von Gesetzgebungsverfahren für den Alltag abgeben.

Ihre Beobachtungen und Expertise systematisch und bundesweit zusammenzufassen, das ist das Anliegen der Studienreihe. Daher befragen wir auch bundesweit und oftmals sogar im Rahmen einer Vollerhebung. Das heißt, wir schreiben alle Einrichtungen in Deutschland an – das ist in dieser Form sicherlich einzigartig. In diesem Jahr haben wir die Bedingungen der teil-/vollstationären Pflege untersucht, in 2016 die des ambulanten Sektors und davor Fragen zur Versorgung von Menschen mit Demenz an die Krankenhäuser gerichtet.

Haben Sie schon eine Idee oder Vision, inwieweit sich der Akzent der Fragestellung in den nächsten Jahren verlagern könnte?
Das ist im Vorfeld immer schwierig zu sagen. Sicherlich werden wir eine Befragung in der teil-/vollstationären Pflege so schnell nicht wiederholen können. Wir entscheiden das genaue Thema immer gemeinsam im Vorstand im Institut und beobachten dazu im Vorfeld sehr genau, in welchem Feld Entwicklungen angestoßen wurden, über deren Auswirkungen noch wenig bekannt ist. Nach den Pflegereformgesetzen war es naheliegend, sich der teil-/vollstationären Pflege zuzuwenden. Wenn es zu Personaluntergrenzen der Pflege im Krankenhaus kommen sollte, dann ruft uns das wahrscheinlich wieder auf den Plan. Vorstellbar ist aber auch, dass wir das Pflegeberufereformgesetz und damit die Bildungseinrichtungen einmal umfassend befragen.

Die Veränderungen bei der Fragestellung der Studie resultieren ja nicht zuletzt aus modifizierten politischen Rahmenbedingungen, die in der vergangenen Legislaturperiode bezüglich der Pflege in einer höheren Frequenz und Intensität umgesetzt wurden. Die Pflegestärkungsgesetze – beispielsweise mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff oder dem Plus an Pflegehilfsmitteln – haben für die Betroffenen wesentliche Veränderungen herbeigeführt. Welche neue Regelung erweist sich für Sie als ein Meilenstein?
Die Frage ist ja immer, für wen was ein Meilenstein ist: für die von Pflegebedürftigkeit betroffenen Menschen, für die Pflegenden, die Träger oder die Politiker? Natürlich kann man sich als Politiker auf die Fahne schreiben, dass man Meilensteine erreicht hat, wenn neue Gesetze verabschiedet wurden, die viel versprechen. Fast die Hälfte der Einrichtungsleitungen aber gab z.B. an, dass nach Einführung des PSG II keine zusätzlichen Personalstellen realisiert werden konnten, gleichwohl dies intendiert war.

Sind Ihnen weitere Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Pflegestärkungsgesetze bekannt?
Die Leitungen beobachten auch mehrheitlich, dass Neueinstufungen im Vergleich zu den Pflegestufen niedriger ausfallen und rund 40 Prozent rechnen daher mit finanziellen Einbußen. Das wird sich auch auf die Personalbesetzung auswirken.

Die Finanzsteuerung und die Personalsteuerung erweisen sich insgesamt aktuell als schwieriger für die Leitungen. Diese Effekte sind immer wieder theoretisch thematisiert worden, aber wir können dies nun mit repräsentativen Daten untermauern. Positiv werden aber z.B. die Effekte durch die strukturierte Informationssammlung beschrieben. Hier werden neben einer Erhöhung der Klarheit auch Effekte bei der Entlastung der Pflegekräfte benannt. Ich würde aber nicht so weit gehen und dies als Meilenstein bezeichnen. Das wären für mich nur deutlich spürbare Verbesserungen bei der Betreuungsqualität.

Wenn man auf die Seite der Pflegefachkräfte und deren Ausbildung schaut, hat sich auch hier einiges getan. Geht das Pflegeberufegesetz weit genug, um gewünschte Veränderungen bei der Qualifikation herbeizuführen? Was braucht es dafür Ihrer Meinung nach?
Aus Sicht der Wissenschaft und zahlreicher befürwortender Verbände geht das Gesetz prinzipiell in die richtige Richtung. Durch den Kompromiss, der im Kern doch wieder eine Spezifizierung der Berufsqualifikationen zulässt, hat man im Feld und hier insbesondere in den Ausbildungsstätten derzeit mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen produziert. In der Diskussion zu kurz gekommen sind aber die möglichen Innovationen, die sich durch vorbehaltliche Aufgaben und durch eine parallele Akademisierung ergeben.

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass die Inhalte der Ausbildung sich wirklich verändern werden und dass der Fokus von einzelnen Tätigkeiten weg auf Kompetenzen und komplexe Pflegesituationen gelenkt werden wird. Das wird den Diskurs über den Kern der Pflege mittelfristig verändern – wer Pflege immer noch als Aneinanderreihung von einzelnen unkomplizierten Tätigkeiten denkt und strukturieren möchte, sitzt auf einem Fliegenfänger. Gesellschaftlich aufwerten können wir die Pflege nur, wenn diese unsäglichen Diskussionen durch andere ersetzt werden. Dann geht es um Verantwortungsbereiche und um die Beantwortung komplexer Entscheidungs- und Begründungszusammenhänge. Der beruflichen Pflege wird dies gut tun.

Die Koalitionäre wollen kurzfristig 8.000 zusätzliche Fachkräfte zur Entlastung der angespannten Situation einstellen. Im „Masterplan Pflege“, den das DIP, vorschlägt wird sogar die Zahl von 100.000 Stellen bis zum Ende der Legislatur genannt, wobei Sie hier vermutlich sowohl Fach- als auch Hilfskräfte meinen. Da stellt sich erstens die Frage: Gibt es diese Kräfte auf dem Arbeitsmarkt? Und zweitens: Wie rekrutiert bzw. motiviert man diese?
Die 100.000 Pflegekräfte sind keine reine Phantasie – sie leiten sich aus unseren Studien ab. Alleine in der stationären und ambulanten Pflege sind derzeit nach unseren Studien zusammen rund 40.000 Stellen offen. Möchte man eine positive Veränderung erzeugen, so bedarf es neben dieser Deckung auch eines Aufbaus.

Im Krankenhaus lassen sich die Kennzahlen aus den unterschiedlichen Entwicklungen des medizinischen und pflegerischen Personals ableiten. So müssten auch hier rund 50.000 Stellen aufgebaut werden, um Veränderungen herbeizuführen und Versäumnisse der Vergangenheit auszugleichen. Dass die 8.000 Kräfte nur ein Beginn sein können, ergibt sich somit von selbst. Das wissen aber auch die verantwortlichen Politiker. Auf dem Arbeitsmarkt findet sich momentan keine Reserve. Hier müssten ausgestiegene Pflegekräfte systematisch zurückgewonnen werden, es müssten Stellenaufstockungen stattfinden und natürlich eine enorm breite Ausbildungsoffensive gestartet werden.


Wie könnte denn eine solche Offensive in der Praxis aussehen?
In NRW hat man die Anzahl der AltenpflegeschülerInnen binnen fünf Jahren um 70 Prozent steigern können. Wenn es gelingt, die Pflege als Top-Thema zu platzieren und mit wirklichen Reformen und Programmen zu stützen, dann kann dies zwar nicht von heute auf morgen erreicht werden, aber es muss heute begonnen werden. Gedacht werden muss auch, dass mit den von uns geforderten 20.000 Bachelorstudienplätzen neue Interessierte gewonnen werden könnten. Auch das wird zu wenig diskutiert: die Akademisierung als eine Strategie der Fachkräftesicherung. Überhaupt: Pflegende sind in aller Regel ja nicht mit ihrem Beruf oder den Berufsinhalten unzufrieden, sondern meist mit den aktuellen Arbeitsbedingungen und -belastungen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Denn die Pflege als Beruf ist weiterhin attraktiv und sinnstiftend.

Attraktiv wird die Pflegearbeit in den Institutionen aber nur wieder, wenn die Bedingungen geschaffen werden, den Job wieder so auszuüben, dass er auch befriedigend ausgeübt werden kann und nicht zur Erschöpfung und Teilzeit führt.

Um Berufsaussteiger wieder für die Pflege zurückzugewinnen, könnten flächendeckende Tarifverträge, wie sie die Koalitionäre fordern, überzeugende Wirkung haben. Die regionalen Entgeltunterschiede sowie die Unterschiede zwischen Alten- und Krankenpflege variieren tatsächlich deutlich, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Januar in einer Studie zeigte. Führt der Weg hier primär über die Entlohnung oder an welcher Stellschraube muss gedreht werden, um dem Fachberuf die viel zitierte Attraktivität zu verleihen, die vor allem die bereits Qualifizierten zum Verweilen oder zur Rückkehr einladen soll?
Die Entlohnung ist wichtig, aber nicht der einzige Aspekt. Dennoch: Man darf das auch nicht kleinreden, nur weil Pflegende eher auf die Straße gehen, um mehr Kollegen einzufordern als mehr Geld. Die hohe Spreizung, die die Studie zeigt, ist doch irreal und unvernünftig. Es kann doch nicht die Postleitzahl oder der Anbieter in einem gesellschaftsrelevanten Tätigkeitsbereich entscheidend dafür sein, ob ich von meinem Job leben kann oder nicht. Natürlich brauchen wir eine systematische Angleichung der Gehälter in der Altenpflege.

Ebenso muss man mal jemanden in der Industrie fragen, ob er sich einer teilweise in der Freizeit durchzuführenden zweijährigen Spezialisierung unterziehen möchte, wenn er in der Folge 70 Euro mehr verdient? Leitungspositionen, für die lediglich mit Ausgleich der entfallenden Schichtzulagen gelockt wird? Studiengänge, die sich nicht auszahlen sollen? Praxisanleitung als Aufgabe in der Freizeit?

Sowas wird doch ernsthaft nur im Pflegesektor erwartet. Fachqualifikationen und Verantwortungsübernahme müssen natürlich anders und spürbar zu einer Verdienstverbesserung führen, sonst bekommt man nicht die Mitarbeiter, die man dringend braucht, wie man an den pädiatrischen Intensivpflegenden sehen kann. Daneben aber gibt es weitere Stellschrauben, die alle hinlänglich bekannt sind: teamorientiertes Arbeiten auf Augenhöhe in den Krankenhäusern, Entscheidungsspielräume bei der Arbeitsgestaltung, Übernahme von Regelgrundversorgung in der Fläche. Es ist doch einigermaßen verwunderlich, dass wir in Deutschland den Hausarztmangel in der Fläche bemängeln und die Potenziale der Pflege, anders als in anderen Ländern, gar nicht erst nutzen wollen.

Die Stärkung der Berufsgruppe dürfte ein Faktor sein, der in Zukunft eine Rolle spielt. Das Modell der Pflegekammer steht hier für eine unabhängige Selbstverwaltung, die im Modell des Pflegerings durch die mögliche Beteiligung von Arbeitgebern und der Finanzierung durch die Politik nicht zu realisieren ist. Ist der Pflegering „besser als gar nichts“ oder ist nur das Modell Pflegekammer effektiv?
Ich schätze das Engagement in Bayern, das man für die Pflege offensichtlich an den Tag legen will. Ich glaube aber, dass man dies in Bayern anders hätte befördern können und müssen, zum Beispiel durch relevante Projektförderungen, eine strukturierte Berichterstattung und Ausbildungsplanung.

Im besten Fall kann eine politisch vollständig abhängig finanzierte Organisation wie eine nachbehördliche Organisation arbeiten, im schlimmsten Fall ist sie eine wirkungslose, aber teure Vereinigung, wo Entwicklungsgelder in anderen Bereichen benötigt werden. Eine starke Pflege muss schon aus einem Eigeninteresse heraus auch für die eigenen Vertretungen finanziell selber aufkommen. Das stärkt auch das Wir-Gefühl unter den Mitgliedern. Daher bin ich klar für eine Pflegekammer.

Wenn das größte Bundesland NRW, wo nicht gefragt werden soll „ob“, sondern „welche“ dieser beiden Lösungen von den Pflegefachkräften gewünscht wird, sich gegen eine Pflegekammer entscheidet, ist die Idee einer Bundespflegekammer dann Makulatur?
Ich glaube nicht, dass dies die Idee einer Bundespflegekammer grundsätzlich in Frage stellen würde. Aber es wäre natürlich ein ungeheuer wichtiges Signal, wenn im bevölkerungsstärksten Bundesland eine eigenständige Vertretung ihre Arbeit aufnehmen würde und sich auch in der Bundespflegekammer engagieren würde. Wir reden hier von rund 200.000 potenziellen Mitgliedern – eine ungeheure gesellschaftliche Kraft.

Ich selbst sehe die Notwendigkeit einer Pflegekammer aber primär für die Arbeit im eigenen Land. Eine Landespflegekammer soll ja zunächst einmal die Belange der Pflege und z.B. der Aus-, Fort- und Weiterbildung im eigenen Land regeln und dafür eintreten. Natürlich ist eine Bundespflegekammer die logische Konsequenz aus den Landeskammern, aber zunächst steht das nicht im Fokus.

Aber es gibt einen anderen Punkt: Wie wichtig eine gute Informationspolitik über die Kammern im Vorfeld ist, hat man in Rheinland-Pfalz gesehen oder als Negativbeispiel in Hamburg. Es kommt also neben einer Befragung und der Systematik der Befragung auch darauf an, hier eine Wissensbasis zu schaffen, vor deren Hintergrund die Pflegenden dann überhaupt auch entscheiden können. Hier hoffe ich auf die Fortsetzung der guten begonnenen Arbeit und einem fairen Abstimmungsverfahren.

Herr Professor Isfort, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MoPf-Redakteurin Kerstin Müller.


Ausgabe 01 / 2018