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Brücken bauen

08.10.2018 06:15
„Ich bin angetreten, um etwas für die Pflege in Deutschland zu verändern“, sagt Sandra Mehmecke, Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen und seit dem 8. August im Amt. Die Gesundheits- und Krankenpflegerin steht somit an der Spitze der bundesweit 3. Pflegekammer und will sich für einen Dreiklang von Gewerkschaft, Berufsverband und Pflegekammer einsetzen, denn nur in dieser Form könnten Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung und in den Arbeitsbedingungen erreicht werden, ist Mehmecke sich sicher. Über den steinigen Weg hin zur konstituierenden Sitzung und die nun anstehenden Aufgaben sprach „Monitor Pflege“ mit der Kammerpräsidentin.

>> Frau Mehmecke, herzlichen Glückwunsch zur Wahl als Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen. Was hat Sie dazu bewogen, sich für das Amt zur Verfügung zu stellen?
Vielen Dank! 15 Jahre Berufserfahrung in der direkten Patientenversorgung haben mich darin bestätigt, dass ich einen wunderbaren Beruf habe. Meine Kolleginnen und Kollegen machen 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag einen hervorragenden Job. Zeitdruck, Arbeitsverdichtung, schwer planbare Arbeitszeiten und unklare Zuständigkeiten machen es nur immer schwieriger, eine Balance zu finden. Was mich und viele Pflegekräfte besonders umtreibt ist, dass wir unter den gegebenen Rahmenbedingungen jeden Tag Entscheidungen darüber treffen müssen, welche Patientinnen und Patienten welche Maßnahmen erhalten können. Das Rationieren der Pflege ist eine tägliche Pflegeaufgabe geworden, der sich jede Pflegekraft individuell stellen muss. Und das darf nicht sein! Das belastet uns Pflegekräfte auf allen Versorgungsebenen und in allen Formen der beruflichen Pflege.

Welche Konsequenzen hat das für die Pflegebedürftigen?
Für Pflegebedürftige stellt diese Situation ein Risiko dar. Ich konnte lange nicht verstehen, warum sich hieran jahrelang nichts ändert – die Befunde sind ja bekannt! Es haben viele Experten über die Pflege gesprochen – aber oft ohne Pflegexpertise. Es fehlte eine Instanz, die ohne Interessenkonflikte wieder die Qualität pflegerischer Leistungen in den Blick nimmt; die gegenüber Öffentlichkeit und Politik für die Belange der betroffenen Menschen eintritt – sowohl für die Pflegeempfängerinnen und -empfänger als auch für die Pflegenden. Pflegekräfte tragen eine hohe Verantwortung für die Versorgung der kranken und pflegebedürftigen Menschen in unserer Gesellschaft. Dafür müssen sie aber mit dem Wissen, den nötigen Ressourcen, dem Ansehen und der Autorität ausgestattet sein, um dieser Aufgabe auch gerecht werden zu können.

Und welcher Instrumente bedarf es, um dies zu erreichen?
Ich bin überzeugt: Dem Fachkräftemangel in der Pflege kann nur adäquat begegnet werden, wenn die Pflege in Deutschland endlich als eigenständige Profession anerkannt wird. Solange es für die berufliche Pflege heißt: „Verantwortung JA, Eigenständigkeit NEIN“, ist die Pflege in Deutschland auf dem falschen Weg. Solange werden sich viele junge Menschen für einen anderen Beruf entscheiden. Das muss sich ändern! Ich bin angetreten, um etwas für die Pflege in Deutschland zu verändern. Wir alle wollen eine hochwertige pflegerische Versorgung der Bevölkerung. Dafür möchte ich mit der gesamten Kammerversammlung Verantwortung übernehmen. Als langjähriges aktives Mitglied in Gewerkschaft und Berufsverband möchte ich Brücken bauen. Ich freue mich unglaublich darüber, zukünftig gemeinsam mit Gewerkschaften und Berufsverbänden wichtige Weichen in die richtige Richtung zu stellen.

Der Weg hin zur ersten Kammerversammlung am 8. August 2018 war steinig. An welcher Stelle spürten Sie den größten Gegenwind?
Der Weg war nicht nur steinig. Der Weg hat uns Ausdauer gelehrt, unseren Zielen treu zu bleiben. Viele beruflich Pflegende konnten und können sich nicht vorstellen, dass eine Pflegekammer irgendwelche Vorteile für sie bringt. Es ist tatsächlich eine Herausforderung anzuerkennen oder auch nur daran zu glauben, den Beruf und die Bedingungen der Berufsausübung mitgestalten zu können. Denn bei der Gestaltung des Pflegeberufs durften die Pflegenden bisher selten selbst mitreden. Leider haben Kritiker und Gegner der beruflichen Selbstverwaltung immer wieder bewusst Unwahrheiten gestreut.

Was meinen Sie da konkret?
Nehmen wir das Beispiel Fortbildungspflicht. Es kursieren noch immer Gerüchte, dass die Pflegekammer unnütze Fortbildungen fordert, die dazu auch noch von unseren Mitgliedern selbst bezahlt werden müssen. Und das natürlich auch noch in deren Freizeit. Fakt ist, die Kostenübernahme bleibt, wie sie ist. Sicher ist es langfristig wichtig und vor allem auch sinnvoll zu schauen, wer sich wann und vor allem wie fortbildet. In diesem Sinne wird die Pflegekammer die bereits bestehenden Fortbildungspflichten der Pflegefachberufe evaluieren und langfristig auch die Fortbildungen entsprechend beeinflussen. Ab 2019 geht es aber zunächst ausschließlich um weiterqualifizierende Weiterbildungen, z. B. als Fachkraft für Intensiv- und Anästhesiepflege. Diese werden, wie gehabt, auch weiterhin freiwillig angeboten und meist von den Arbeitgebern finanziert.

Die Pflegekammer Rheinland-Pfalz ist Vorreiterin als Institution dieser Art. Wie wertvoll ist die Pionierarbeit von Herrn Dr. Mai und seinen Kollegen für Nachahmer und an welcher Stelle war der Erfahrungsaustausch für Sie besonders wichtig?
Die Pflegekammer Rheinland-Pfalz war in der Tat Vorreiterin für eine Entwicklung, die die pflegepolitischen Dimensionen in Deutschland nachhaltig verändert hat. Wir können heute erleben, dass der Funke Pflegekammer von einem Bundesland zum anderen überspringt. Die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz zeigt, dass eine Idee immer erst eine gewisse Zeit benötigt, um in den Köpfen der Menschen anzukommen, dass kontrovers geführte Diskussionen nötig sind und Veränderungen nicht über Nacht möglich sind. Wir erleben zudem, dass neue Entwicklungen immer zuerst kritisch gesehen werden, was per se durchaus zu begrüßen ist. Die Pflege hat auf jeden Fall durch die Gründung der ersten drei Pflegekammern in Deutschland schon heute eine deutlich bessere Wahrnehmung erfahren.

Niedersachsen ist jedoch nicht Rheinland-Pfalz ist nicht Schleswig-Holstein. Was unterscheidet Niedersachsen und seine Pflegelandschaft strukturell von den genannten anderen beiden Ländern.
Wir müssen im Flächenland Niedersachsen unbedingt Lösungen für die Versorgung der Bevölkerung auf dem Land entwickeln. Das geht nur gemeinsam mit den anderen Heilberufen. Wir müssen Lösungen finden, welche Aufgaben künftig von qualifizierten Pflegefachpersonen übernommen werden können. Leider bewegt sich das Einkommensniveau der Pflegefachpersonen in Niedersachsen im Vergleich der anderen westdeutschen Bundesländer am unteren Ende. Pflege muss unbedingt anständig bezahlt werden. Das ist ein Fakt. Darüber müssen wir gar nicht diskutieren. Die Modalitäten und Zuständigkeiten liegen hier ganz klar bei den Tarifpartnern und nicht zuletzt bei den Vertragspartnern im Bereich der Sozialversicherung und den Partnern der Gemeinsamen Selbstverwaltung.

Welche Aufgaben stehen für Sie jetzt ganz oben auf der Agenda?
Die Kammerversammlung wird noch einige Zeit brauchen, um ins Arbeiten zu kommen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess, der auch in vielen anderen Umfeldern zu erleben ist. Dennoch werden wir noch in diesem Jahr damit beginnen, die Diskussion um eine Berufsordnung auf eine breite Basis zu stellen. Viel gibt es hinsichtlich der Übernahme der Weiterbildung ab 2019 zu tun. Schon ab nächsten Januar überträgt das Land Niedersachsen die zukünftige Regelung der qualifizierenden Weiterbildung an die Pflegekammer.

Wir werden zudem in den nächsten Monaten verlässliche Daten zur Situation der beruflich Pflegenden in Niedersachsen liefern können. Und das bis auf die regionale Ebene. Wir können dann beispielsweise sagen, wie viele der registrierten Mitglieder in der Region X in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden. Solche Angaben sind für die Versorgungssicherheit im Land von unersetzlicher Bedeutung. Bisher beruhen alle Angaben nur auf Schätzungen. Womöglich werden wir hier noch so manche Überraschung erleben. Und natürlich werden wir zu aktuellen pflegepolitischen Entscheidungen und Entwicklungen aktiv Stellung beziehen.

Ihre Prognose: Nordrhein-Westfalen steht in den Startlöchern für eine Befragung der Pflegefachkräfte. Ist NRW das nächste Bundesland mit Landespflegekammer und wird die Sogwirkung der konstituierten Kammern weitere Bundesländer erfassen?
Die Sogwirkung hat doch schon längst eingesetzt. Auch in Hessen, Brandenburg und Baden-Württemberg laufen Befragungen bzw. sind gelaufen. Die Pflegenden im Südwesten haben sich zu 68 Prozent für eine Pflegekammer ausgesprochen. NRW geht mit der Befragung den Weg, den Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen zuvor auch gegangen ist. Wir wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Informationsgrad und der Zustimmung zur Pflegekammer gibt. Das haben bisher alle Befragungen ergeben. In diesem Sinne sind die Kolleginnen und Kollegen in NRW durch die Entwicklungen in den drei Bundesländern aufs Beste vorbereitet. Die politische Unterstützung durch den nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann ist groß. Er legt mit der Befragung, wie er selbst sagte, den Ball auf den Elfmeterpunkt. Das Tor müssen die Pflegekräfte jetzt selbst schießen.

Welchen Tipp geben Sie Pflegekammer-Gründungswilligen auf den Weg?
Kommen Sie mit den bestehenden Pflegekammern ins Gespräch. Niemand ist perfekt. Lernen Sie aus Fehlern. Setzen Sie sich mit den Anliegen, Sorgen und der konstruktiven Kritik der Kolleginnen und Kollegen auseinander. Nur dadurch können Sie gemeinsam Antworten und Lösungen suchen und finden. Gehen Sie raus in die Einrichtungen, suchen Sie das Gespräch und nehmen Sie Kritik nicht zu persönlich. Vor allem verlieren Sie nicht den Spaß an Ihrem Engagement!

Frau Mehmecke, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MoPf-Redakteurin Kerstin Müller.

Sandra Mehmecke (M.A.)
Von 2000-2003 absolvierte Mehmecke eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege an der Medizinischen Hochschule in Hannover. Abschluss: Gesundheits- und Krankenpflegerin. Von 2009-2011 studierte sie Pflege an der Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt Beratung und schloss dieses mit dem Bachelor ab. Von 2011-2015 folgte ein Masterstudium mit Schwerpunkt Management für Gesundheitsberufe, das sie erfolgreich abschloss. Seit 2014 arbeitet Mehmecke auch als Lehrbeauftragte für Pflegestudiengänge und an verschiedenen wissenschaftlichen Projekten mit. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Gesundheitssystemforschung mit dem Schwerpunkt auf Arbeitsbedingungen in der Pflege. Seit dem 08.08.2018 ist sie Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen.

Ausgabe 03 / 2018