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Digitalisierung hilft Pflege gestalten

08.08.2018 11:42
Als Gesundheits- und Krankenpfleger gestartet, ist der Pflegewissenschaftler, Medizin- und Pflegeinformatiker Professor Björn Sellemann seit dem Wintersemester 2017 am Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule Münster mit dem Lehr- und Forschungsgebiet „Nutzerorientierte Gesundheitstelematik und assistive Technologien“ betraut. Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen wie die elektronische Patientenakte oder die Telematikinfrastruktur gehören zum Curriculum. Sellemann hat zum Thema Data Mining in der Pflege promoviert und bewegt sich mit seiner Vita im Spannungsfeld von Technik und Pflege sowie Therapie. Vom Fachbereichsdekan Professor Rüdiger Ostermann als „Glücksfall“ bezeichnet, steht er für eine Optimierung der Versorgungsprozesse, bei der die Technik und die Informations- und Kommunikationstechnologien – richtig eingesetzt – hilfreich sein kann.

>> Herr Professor Sellemann, die Pflege hat es seit der Bundestagswahl geschafft, auf der innenpolitischen Agenda prioritär behandelt zu werden. In diesem Kontext startete Anfang Juli auch die „Konzertierte Aktion Pflege“, die Gesundheits-, Familien- sowie Arbeitsministerium initiieren und die in Kooperation mit Arbeitgebern, Krankenkassen, Verbänden u.a. durchgeführt werden soll, um Pläne für attraktivere Arbeitsbedingungen zu erarbeiten. Was halten Sie davon?

Ich begrüße diese Kampagne und auch die Tatsache, dass sich drei Ministerien der Sache annehmen. Die Ziele und der gesetzte Zeitrahmen sind allerdings inhaltlich sehr ambitioniert, daher bleibt abzuwarten, wie erfolgreich das Ergebnis und die Umsetzung dessen sein wird.
Wenn man sich die Mitglieder der fünf geschaffenen Arbeitsgruppen ansieht, sind es in der Regel jeweils über 20 Interessenvertreter, die hier teilnehmen. Die alle ins selbe Boot zu holen und dann noch in die selbe Richtung segeln zu lassen, ist eine große Herausforderung. Da bin ich gespannt, wie das in den einzelnen Arbeitsgruppen umgesetzt werden kann. Aber ich hoffe, dass dort Ideen generiert werden, die im Nachgang natürlich noch ausgearbeitet werden müssen; aber dass man sich an einen Tisch setzt und Möglichkeiten der Pflegesituationsverbesserung und der Personalnot in Deutschland eruiert, ohne dass die unterschiedlichen Interessen im Vordergrund stehen, sehe ich als große Chance.

Die Arbeitsgruppe 3 beschäftigt sich im Rahmen der Aktion mit „Innovativen Versorgungsansätzen und Digitalisierung“. Welche Ergebnisse erwarten Sie hier?

Man kann sich die verschiedenen Themenfelder der Arbeitsgruppe ansehen oder schauen, wo im Kontex von Digitalisierung die Rede ist: Ein Bereich ist „Digitalisierung bei der Gestaltung innovativer Versorgungsansätze“– Telenursing, Quartierskonzept, Telecounselling. Das sind Themen, die auch im Medizinbereich bei den Ärzten schon bekannt sind. Wenn man sich zum Beispiel die Televisite und das Fernbehandlungsverbot anschaut, wie langwierig die Diskussion war, bis entsprechende Teleangebote in den Vergütungskatalog mitaufgenommen worden sind, ist das schon ein sehr hehres Ziel.

Bei der Betrachtung der häuslichen Assistenzsysteme sind ja vielfach nur Prototypen in Projekten entwickelt worden, zu denen noch keine Studien zur Wirksamkeit vorliegen, um in das Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes aufgenommen zu werden. Genauso ist es bei dem Punkt „Digitalisierung zur Entlastung von Pflegekräften“. Als Beispiel wird „Entbürokratisierung der Pflegedokumentation“ genannt – das aktuell ein Thema, welches durch den Bundesbevollmächtigten für Pflege in der letzten Legislaturperiode sehr stark vorangetrieben worden ist, was aber in erster Linie nur für einen Teil der Pflege – nämlich der Langzeitpflege – entwickelt worden ist.

Und wenn man auf die weiteren Punkte schaut, die hier aufgeführt sind, dann komme ich einmal mehr zu dem Schluss, dass man einfach stärker differenzieren muss: Was ist denn überhaupt Pflege und in welchem Setting findet die Pflege statt?

Und wie würden Sie diese Frage beantworten?

Ich erläutere das auch meinen Studierenden immer: Es gibt unterschiedliche „Pflegewelten“ und Pflegesettings. Wir haben die ambulante Pflege, die ganz andere Anforderungen an die Pflege und deren Dokumentation der Versorgungsprozesse stellt, als zum Beispiel an die Kollegen in der Langzeitpflege, wo eben das Thema Entbürokratisierung in der letzten Zeit vorangetrieben worden ist; und dann haben wir noch den Bereich des Krankenhauses, der wieder andere Anforderungen an eine Dokumentation hat. Wenn man sich dann noch anschaut, welche unterschiedlichen beruflichen Ausprägungen es gibt – von der Kinderkranken- hin zur Palliativpflege, muss man schon sehr diffenziert die einzelnen Bereiche betrachten und die Anwendung, in der Pflege stattfindet, um entsprechende Lösungen zu finden. Denn durch Entbürokratisierung automatisch mehr Personal zu generieren, das ist, glaube ich, zu einfach gedacht. Es ist unerlässlich, dezidiert die einzelnen Sektoren und Versorgungsbereiche zu betrachten.

Aber halten Sie das unter dieser Voraussetzung für umsetzbar?

Ja, das halte ich grundsätzlich für umsetzbar, aber man muss sich dann auch mit einem allgemeingültigen Thema beschäftigen, und das wäre aus meiner Sicht beispielsweise das Thema Pflegefachsprache: Denn jeder Bereich, jede Station im Krankenhaus, jede Einrichtung, dokumentiert in der Pflege häufig noch freitextlich. Es werden in der Regel keine Pflegeklassifikationen oder eine Pflegefachsprache verwendet, wie zum Beispiel in der Medizin der OPS- oder der ICD 10-Katalog, sodass es schon bei der Frage nach der Dokumentationsart oder dem Informationsaustausch zu Schwierigkeiten kommen wird. Das führt intern bereits zu Informationsverlusten und wenn man das noch sektorübergreifend und institutionsübergreifend betrachtet, wird es schwierig.

Wo verorten Sie denn das Problem hierfür?

Ich sehe das Problem hier weniger in der Technik, sondern eher in der Pflege selber; man muss sich auf eine Pflegefachsprache bzw. auf eine Klassifikation verständigen. Sei es für die Diagnosen oder auch entlang des gesamten Pflegeprozesses. Unsere österreichischen Nachbarn machen uns das vor. Der Gesetzgeber hat dort ganz klar formuliert: Wir möchten Pflegediagnosen entsprechend dokumentiert haben. Die Dokumentation von Pflegediagnosen ist ohne die Verwendung von IT-Systemen sehr aufwendig, sodass mit der Einführung der Pflegediagnosen auch der Verbreitungsgrad von IT-Sytemen in der Pflege in Österreich anstieg. Heute sind IT-Systeme in der Pflege viel stärker im österreichischen Krankenhaussektor verbreitet als in Deutschland. Vermutlich eben durch genau diesen Trigger, dass man Pflegediagnosen dokumentieren muss. Ich hoffe, dass ein solches Thema bei der Konzertierten Aktion Pflege auch angesprochen wird.

Also sehen Sie auch hier den Gesetzgeber in der Pflicht?

Ja, meiner Meinung nach ist es die Politik, die Bundesregierung, die hier ein klares Zeichen setzen kann. Die muss ja auch in anderen Bereichen wie der Medizin klare Entscheidungen treffen. Sei es beispielsweise für die DRG-Einführung bezüglich der Krankenhausfinanzierung. Das müsste auch für die Pflege passieren. Aber ich erhoffe mir einfach aus der Heterogenität der Arbeitsgruppe heraus, wo auch die Wissenschaft mit vertreten ist, dass das entsprechend diskutiert wird.

Man sollte auf keinen Fall versuchen, die schlechten analogen Prozesse zu digitalisieren, denn diese werden dadurch nämlich nicht per se zu guten Prozessen. Es ist essenziell, dass man sich diesem Grundproblem – aus meiner Sicht einer fehlenden Pflegefachsprache – einmal annimmt und das diskutiert, um Empfehlungen für die Gesetzgebung zu geben.

In welcher Form kann denn die Digitalisierung konkret und effektiv dazu beitragen, das Problem der Personalnot in der Pflege zu minimieren?

Hier muss ich auch erst das Pflegesetting eruieren. Wenn wir einmal den Krankenhausbereich betrachten, bedeutet digitale Dokumentation – falls diese bereits stattfindet – häufig nur das Ausfüllen mit der Maus statt mit dem Stift. Aber der Inhalt ist identisch. Hier muss das Ziel sein, dass ein System die erforderlichen Patienten- und Pflegeinformationen automatisch herauszieht, sodass die Doppelerfassung von Informationen entfällt.

Am Beispiel des Krankenhauses gibt es seit dem Jahr 2012 den Pflegekomplexmaßnahmen-Score für hoch pflegeaufwendige Patienten, über den die Kosten für besonders aufwendige Pflege gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden kann. Die Gründe für hochaufwendige Pflege sind einmalig und bei Änderung des Patientenzustandes zu erfassen und die Pflegemaßnahmen sind durch eine tägliche Leistungsdokumentation nachzuweisen. Das ist ein Riesenaufwand (zum Beispiel über den entsprechenden PKMS-Bogen im DIN-A3-Format)  und die Informationen, die dabei festzuhalten sind, sind vielfach schon im System vorhanden. Sie müssen aber entsprechend genutzt werden. Doch häufig wird einfach nur Papier digitalisiert und die Möglichkeiten und Chancen, die die IT bietet, nicht sinnvoll genutzt. Denn erst dann kann es zu einer Entlastung bzw. einer Unterstützung der Pflegekräfte kommen.

Was wäre die Konsequenz?

Dann würden auch personelle Ressourcen freigesetzt, weil die Pflege von vielen Dokumentationszwängen befreit wäre. Dabei ist natürlich auch die Qualität des IT-Systems entscheidend, denn ein gutes IT-System muss im Hintergrund laufen und die Prozesse unterstützen. Und die Basis all dessen ist natürlich eine IT-Strategie in der Einrichtung, die allerdings bisher vielfach nicht vohanden ist. Im Rahmen des „IT-Report Gesundheitswesen“ der Hochschule Osnabrück aus dem letzten Jahr gaben ca. ca. 40 Prozent der Krankenhäuser an, eine mit der Krankenhausstrategie abgeglichene IT-Strategie zu besitzen. Aber knapp 30 Prozent gaben an, dass diese bedauerlicherweise nicht mit der Krankenhausstrategie abgeglichen ist.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will mit dem Gesetzentwurf zur Stärkung des Pflegepersonals via Sofortprogramm das Pflegefachkräftepersonalproblem angehen. In diesem Zusammenhang besteht auch der Plan, die Zusammenarbeit zwischen dem niedergelassenen Arzt und dem Pflegeheim zu verbessern und auf Basis eines einheitlichen Standards digitale Kommunikation in Form von Videosprechstunden einzuführen. Eignet sich dieses Tool zur Arbeitsentlastung bzw. Effizienzsteigerung?

Grundsätzlich schon. Aber das Problem ist das „s“ am Ende des Wortes Standards. Es wird höchstwahrscheinlich nicht EINEN Standard geben, sondern wieder ganz viele. Man kann das mit den unterschiedlichen Anbietern elektronischer Patientenakten (ePA) vergleichen. Wenn ich mich als niedergelassener Arzt in fünf verschiedenen Video-Chat-Protokollen und -formaten mit den Heimen austauschen muss, ist das nicht gerade nutzerfreundlich. Da muss man zukünftig gucken, wie man das über eine zentrale Einheit, wie zum Beispiel der Telematikinfrastruktur, gewährleisten kann. Da ist Herr Spahn gerade sehr aktiv – indem er im Frühjahr einen Abteilungsleiter für Digitalisierung (Herrn G. Ludewig) berufen hat – sich diesem Thema anzunähern.

Wie können wir die Telematikinfrastruktur für die Versogung sinnvoll nutzen? Das ist die Frage.
Darüber hinaus ist es wichtig sicherzustellen, dass alle am Versorgungsprozess Beteiligten gleichberechtigten Zugang zur Telematikinfrastruktur haben. Denn Versogungskontinuität erfordert Informationskontinuität.

Sie sind Professor für Nutzerorientierte Gesundheitstelematik und assistive Technologien im Fachbereich Gesundheit an der FH Münster. Was lernen Ihre Studenten und wo kommt da die Pflege ins Spiel?

In den Studiengängen für Therapie- und Pflegeberufe am Fachbereich habe ich einige Veranstaltungen, in denen es um ein Grundverständnis von IT im Gesundheitswesen geht. Pflege und Therapie ist da eigentlich immer mit im Spiel, denn ich bin von Haus aus Krankenpfleger, habe Pflegewissenschaft studiert und weiß aus meiner Zeit am Bett und meinen Praxisprojekten auch, wie die Arbeit in der Pflege organisiert ist und wie dort bestimmte Prozesse vonstatten gehen, sodass man mit den Studenten stets in die Diskussion über den Ablauf und die Optimierung bestimmter Versorgungsprozesse treten kann.

Sie betreuen auch Forschungsprojekte.

Was den Vorschlag von Herrn Spahn bzw. seines Abteilungsleiters Herrn Ludewig betrifft, über mobile Zugänge mittels PIN oder TAN Zugriffe auf die Telematikinsfrastuktur oder die ePA zu ermöglichen (Anm.d.Red.: S. Bericht i.d. Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16.07.2018): Ich habe mit Kollegen der Hochschule Osnabrück und zwei Fraunhofer Instituten in der Region Osnabrück das BMG-geförderte Forschungsprojekt „ePA II: Mehrwerte demonstrieren!“ durchgeführt. Das Projekt hatte primär die Zielsetzung, den Nutzwert der elektronischen Patientenakte gemäß §291a SGB V in dem realen Anwendungsszenario des medizinisch-pflegerische Entlass- und Überleitungsmanagement zu demonstrieren.

Ziel war es, den Übergang vom Patienten im Krankenhaus in die stationäre Langzeitversorgung mit der elektonischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur abzubilden. Wir haben in diesem Zuge eine Labor-Telematikinfrastruktur geschaffen und haben über diese, reale Patienten aus dem Krankenhaus in eine beteiligte stationäre Langzeitpflegeeinrichtung übergeleitet. Und dort konnten wir darstellen, dass die Authentifizierung mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und das damit einhergehende Zweischlüsselprinzip in Kombination mit dem elektronischen Heilberufeausweis das größte Nadelöhr darstellt.

Denn Patienten, die am meisten vom Entlassmanagement profitieren sind verstärkt ältere Patienten, die sich häufiger kognitiv eingeschränkt zeigen oder unter Betreuung stehen. Und dass diese Patienten ihre PIN-Nummer bzw. ihre eGK überhaupt vor Ort haben, das war das größte Problem.

An welcher Stelle kam der Prozess hier genau zum Erliegen?

Zum einen dadurch, dass die verlegende Einrichtung die Informationen ohne Einwilligung des Patienten über die eGK und PIN in der ePA nicht speichern konnte. Und zum anderen, dass die nachgelagerte Einrichtung wiederum ohne Patient mit eGK ud dessen Einwilligung über das PIN-Verfahren auf die Daten nicht zugreifen konnte. Hier sind dann die Schwachstellen der Authentifizierung offenbar geworden.

Desweiteren wäre es wünschenswert gewesen, wenn die nachfolgende Einrichtung bereits im Vorfeld die Daten des Patienten bekommen könnte. Aber die Einrichtung kann erst auf die Daten zugreifen, wenn der Patient sein Einverständnis gibt, was bedeutet, der Patient muss bereits in der Einrichtung präsent sein.

Ich denke, dass dieser Bericht über die Authentifizierung mittels der eGK im Bundesministerium für Gesundheit für die Erkenntnis gesorgt hat, dass dieses Zwei-Schlüssel-Prinzip über die Karte nicht mehr zeitgemäß ist. Die Gesetzgebung für die eGK stammt aus dem Jahr 2002 – da war das iPhone noch Zukunftsmusik. Heute ist eine Authetifizierung via Fingerprint oder Gesichtserkennung möglich. Und auch unter definierten Bedingungen datenschutzkonform. Bei dem Projekt „ePA II“ ist zudem aufgefallen, dass beispielsweise Privatpatienten oft keine eGK besitzen und somit gar keine Authentifizierung in der Telematikinfrastruktur vornehmen könnten.

Es gibt da auch noch das Projekt „PosiThera“, das noch bis 2019 läuft und sich auch der Versorgungskontinuität – und zwar bei Chronischen Wunden – widmet.

Ja, hier wird auch die ePA als Informationsmedium für alle am Versorgungsprozess Beteiligten genutzt. Und es geht sogar noch einen Schritt weiter: Die Daten, die vom Versorgungsprozess darin gespeichert werden, sollen gleichzeitig genutzt werden, um ein entscheidungsunterstützendes System zu entwickeln.

Elektronische Dokumentation, Telecare, Technische Assistenz und Robotik – das sind sogenannte Fokustechnologien, die im Gemeinschaftsvorhaben „Pflege 4.0“ der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), des Bundesministeriums für  Arbeit und Soziales (BMAS) und der Offensive Gesund Pflegen (OGP) gegannt werden. In welchem Feld kann die Pflege hier die größte Unterstützung erwarten?

Das muss man sich auch wieder in den einzelnen Settings ansehen. Aber bei der Dokumentation beispielsweise muss jeder seine Hausaufgaben machen. Wie können wir  eine Pflegedokumentation entwickeln, die das dokumentiert, was wichtig ist und auch Doppeldokumentationen nicht mehr erfasst werden? Ich denke, da sind genug Anforderungen in der Vergangenheit generiert worden, wie so etwas auszusehen hat. In der Konsequenz muss man nun schauen, dass man die schon angesprochenen Synergien, die IT-Systeme bieten, entsprechend nutzt. Darüber hinaus stellen die Daten und deren Auswertung eine wertvolle Ressource dar. Wenn eine „saubere“ Dokumentation vorliegt, dann bieten diese Daten sehr viel Potenzial, um Versorgungsprozesse zu überprüfen, zu evaluieren und zu verbessern. Das ist auch das Ziel des Projektes PosiThera: Die vorhandenen Daten nicht nur zu Abrechnungszwecken zu nutzen, sondern für die weitere Versorgung.

Was lässt der Bereich Telecare erwarten?

Für den Bereich Telecare gibt es meiner Meinung nach viele mögliche Anwendungsbereiche. Sie hatten die Videosprechstunde mit dem Pflegeheim angesprochen. Hierbei muss man zum einen die gesetzlichen Regelungsmöglichkeit betrachten und zum anderen sich die Frage nach der Sinnhaftikeit in den unterschiedlichen Pflegesettings ansehen. Im Bereich der Beratung kann ich mir das sehr gut vorstellen, im Bereich der Anleitung eventuell ebenfalls. Ich denke, es werden sich Nischen hierfür finden.
Was halten Sie von Technischen Assistenzsystemen?

Das ist derzeit ein Schlagwort. In den letzten 10 bis 15 Jahren war das Thema AAL (Ambient Assisted Living) ein sehr forschungsgetriebenes, was sich mittlerweile jedoch ein wenig geändert hat. Aus meiner persönlichen Wahrnehmung ist es um AAL in letzter Zeit ruhiger geworden.


Das hat welchen Grund?

Die Pflege ist nach den ersten, euphorischen Jahren ruhiger in diesem Bereich geworden, weil man merkte, dass die Entwicklung doch nicht so schnell voranschritt, wie man sich das vorgestellt hatte. Überspitzt formuliert, kann die „365. Anti-Dekubitus-Matratze“, die vielleicht noch den pH-Wert des Schweißes mißt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es originäre pflegerische Aufgabe ist, Patienten zu lagern und zu erkennen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form ein Lagerungswechsel angezeigt ist. Die Assistenzsysteme, die damals im Kontext von AAL entwickelt worden sind, waren ja vornehmlich Alarmsysteme. Es wurde entwickelt, was technisch möglich ist, aber nicht, was für die pflegerische Arbeit gerade erforderlich ist. Hier muss man gerade bei der Entwicklung die Pflege intensiver mit ins Boot holen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Als Beispiel fällt mir hier das Projekt VerAH (Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis) ein. Hier unterstützen die Medizinischen Fachangestellten die Hausärzte, indem diese die Patienten aufsuchen und bestimmte Untersuchungen selbständig durchführen. Immer mit der Möglichkeit, den Hausarzt zu kontaktieren. Eine Stunde vor dem Besuch von VerAH war aber bereits die ambulante Pflege da, um den Patienten bei der Morgentoilette zu unterstützen. Warum kann diese beispielsweise nicht im Zuge ihres Besuches den Blutdruck messen und die Daten an den behandelnden Hausarzt weitergeben? Das muss doch zusammengedacht werden. Da muss man die Sektoren überwinden und je nachdem eruieren, ob auch Versorgungsprozesse angepasst werden müssen.

Also ist der AAL-Bereich eher von Ernüchterung geprägt?

Nichtsdestotrotz hat sich aus dem AAL-Bereich das Feld Smartes Wohnen oder Intelligentes Wohnen entwickelt, wofür die automatische Herd- oder Wasserabschaltung ein Beispiel ist.
Hier muss man aber auch wieder beleuchten, um welche Anwendung es geht. Im Rehabilitationsbereich sind technische Assistenzsysteme schon allgegenwärtig. Technische Assistenzsysteme werden hier eingesetzt, um Funktionseinschränkungen zu beheben bzw. zu kompensieren. Sie sind im Hilfsmittelverzeichnis gelistet und werden größtenteils finanziert, aber im Pflegebereich gibt es kaum Wirksamkeitsstudien für bestimmte Technische Assistenzen, insofern müssen die Unterstützungsbedürftigen die Produkte oder Anwendungen selber finanzieren. In den nächsten 5 bis 10 Jahren wird sich hier wohl aber vieles entwickeln.

Wie offen ist denn die Pflege für neue Technologien?

Ich denke, die Pflege ist offen für neue Technologien, aber etwas zurückhaltend. Am Beispiel der eingangs erwähnten Elektronischen Dokumentation im Krankenhaus, die das erwartete Mehr an Pflegezeit nicht herbeiführte, da der Dokumentationsaufwand sogar anstieg, ist man hier vorsichtiger. Außerdem ist der Fachkräftemangel ja Realität, und dabei noch den Kopf frei für Innovationen oder sogar Spaß an diesen zu haben, ist schon eine sehr ambitionierte Vorstellung.

Schließlich sind diese Themen zudem bisher weder Gegenstand der Ausbildung noch in großem Umfang Bestandteil des Curriculums im Studium. Das muss sich auch ändern.

Welche strukturellen Änderungen sind in der Pflege heute notwendig, um die Pflege zukunftsfest zu machen?

muss man sich überlegen, ob das noch zeitgemäß ist. Hier ist keine Ad-hoc-Lösung zu erwarten, weil die Struktur historisch gewachsen ist. Aber wenn wir von Versorgungskontinuität sprechen, betrifft das nicht nur einen Sektor, sondern alle Sektoren, in denen sich der Patient bewegt, und da bestehen im Moment die größten Hürden, bzw. Grenzen, was den Datenaustausch anbelangt. Das muss man angehen.

Und zweitens ist wichtig, dass die Pflege als gleichberechtigter, vollwertiger Partner im Versorgungsprozess anerkannt wird. Wir machen uns Gedanken über die Interdisziplinarität in der Pflege, mit anderen Gesundheitsfachberufen in den Austausch zu treten und gemeinsam zu arbeiten, aber das gilt natürlich auch für die Medizin.

Einige Standorte gehen den Weg, Mediziner und Pflegekräfte bestimmte Lehrveranstaltungen im Studium gemeinsam besuchen zu lassen, um nicht singulär im eigenen Feld sozialisiert zu werden, sondern während des Studiums bereits die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu etwas Selstverständlichen werden zu lassen. Dieses Sektoren- und Standesdenken muss man in Zukunft auflösen.

Es wächst eine neue Genaration an Mitarbeitern im Gesundheitswesen heran, für die gemeinschaftliches Arbeiten und Lernen durch die Sozialen Medien allgegenwärtig ist und da habe ich die Hoffnung, dass sich das auch in den Versorgungsprozessen widerspiegelt.

Herr Professor Sellemann, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MoPf-Redakteurin Kerstin Müller.


Ausgabe 02 / 2018