Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2018 „Es bedarf grundlegender Veränderungen“

„Es bedarf grundlegender Veränderungen“

08.10.2018 06:13
spectrumK, der Full-Service-Dienstleister für die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, richtet 2018 wieder die Berliner Pflegekonferenz aus – bereits zum fünften Mal. Kooperationspartner sind der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) sowie der BKK Dachverband e.V. und der IKK e.V. Internationale und nationale Praxisbeispiele, politische Maßnahmen oder Digitalisierung: „Monitor Pflege“ hat spectrumK-Geschäftsführer Yves Rawiel im Vorfeld der Veranstaltung zu den Topthemen des interdisziplinären Dialogforums befragt.

>> Herr Rawiel, was in den letzten Jahren Schweden, Japan oder die Benelux-Staaten waren, ist in diesem Jahr Vietnam. Warum ist ausgerechnet das Land im Südchinesischen Meer internationaler Partner der diesjährigen Berliner Pflegekonferenz?
Als Folge der Alterung der Gesellschaft in Deutschland besteht im Pflegesektor bereits heute ein Mangel an Fachkräften. Im Koalitionsvertrag wurde daher beschlossen, die Personalausstattung in Pflegeinrichtungen durch die Schaffung von 8.000 neuen Fachkraftstellen zu erhöhen. Vor dem Hintergrund der jüngst veröffentlichten Studie vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung dürfte dies kaum genügen, denn danach gibt es schon jetzt 17.000 unbesetzte Stellen in deutschen Pflegeheimen.

Deutschland sucht also dringend gut ausgebildete Alten- und Krankenpflegerinnen und -pfleger. Weder die inländische Bevölkerung noch Fachkräfte aus den europäischen Nachbarstaaten können den heutigen und künftigen Bedarf decken. Unser Ziel kann es außerdem nicht sein, anderen Ländern Pflegefachkräfte wegzukaufen. Denn dort werden sie selbst dringend benötigt. Vielmehr wollen wir auf der Berliner Pflegekonferenz Lösungswege aufzeigen, von denen alle Beteiligten in der Praxis profitieren und die unter ethischen Aspekten vertretbar sind.

Und was zeichnet Vietnam konkret als Partnerland aus?
Vietnam ist unter diesen Gesichtspunkten ein interessantes Partnerland. Denn Vietnam verfügt über eine junge, gut gebildete Bevölkerung und schneidet in den internationalen Bildungsvergleichen („PISA“) regelmäßig deutlich besser ab als viele westeuropäische Länder. Dennoch finden viele junge Menschen in Vietnam keine Arbeit. In Zahlen bedeutet das: Das Land hat 93 Millionen Einwohner, jährlich drängen 1,5 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, davon 500.000 ohne Jobperspektive. Schätzungen gehen davon aus, dass die Bevölkerung 2025 die Marke von 100 Millionen Einwohnern erreicht haben wird.

Projekte wie das Pilotvorhaben, in dem vietnamesische Arbeitskräfte in Deutschland in der Altenpflege ausgebildet wurden, können zur Lösung des Pflegenotstandes beitragen. Beide Länder profitieren davon. In diesem Pilotprojekt wird jährlich nach jungen Vietnamesinnen und Vietnamesen gesucht, die sich für die Arbeit als Krankenpflegefachkraft in Deutschland weiterbilden lassen möchten. Hierzu kooperieren das deutsche Wirtschaftsministerium sowie private Träger seit mehreren Jahren mit dem vietnamesischen Department of Overseas Labour (DOLAB) bzw. dem Center for Overseas Labour (COLAB), um vietnamesische Pflegekräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen.

Ausländische Pflegekräfte zu rekrutieren hat auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf der Agenda des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes. Das Fachforum „Fachkräftemangel in der Pflege – bietet die Rekrutierung von Fachkräften im Ausland einen Ausweg?“ eröffnet dem Thema auf der Berliner Pflegekonferenz ebenfalls eine Bühne. Unter welchen Voraussetzungen ist dies Ihrer Meinung nach eine sinnvolle Lösung?
Bedingung für den Erfolg ist eine hochwertige Sprach- und Fachausbildung der Pflegekräfte und die Gewährleistung grundlegender Rechte in Deutschland. Spätestens seit den Erfahrungen mit der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren weiß man in Deutschland um die Herausforderungen auf diesem Gebiet. Es ist daher darauf zu achten, dass alle Beteiligten profitieren – auch langfristig gesehen. Wir müssen zum Beispiel unbedingt vermeiden, dass Auszubildende aus Vietnam als billige Hilfskräfte engagiert werden. Sie haben den Beruf von Grund auf zu erlernen und dann auch einen entsprechenden Vergütungsanspruch. Außerdem müssen für sie die gleichen Aufstiegschancen gelten wie für alle anderen auch. 

Bei der Rekrutierung von bereits voll ausgebildeten Pflegefachkräften gibt es nach wie vor Probleme mit Blick auf die Anerkennung gleichwertiger Berufsabschlüsse. Auch bei der Einreise ausländischer Fachkräfte existieren immer noch erhebliche Hürden. So ist das Thema Einwanderungsgesetz zwar auch Bestandteil des Koalitionsvertrages, doch fehlen vielfach noch verbindliche Daten für die Umsetzung.

Die Politik behandelt das Thema Pflege mittlerweile prioritär. Familienministerin Franziska Giffey hat im Rahmen der „Konzertierten Aktion Pflege“ gesagt: „Pflege muss wieder cool werden.“ Wie kann das Ihrer Meinung nach am besten gelingen?
Um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, bedarf es grundlegender Veränderungen. Neben der Entlohnung müssen die Arbeitsbedingungen in der Pflege kontinuierlich und nachhaltig verbessert werden. Dazu gehören eine bessere personelle Ausstattung der Pflegeeinrichtungen, speziell auf die besonderen Belastungen des Pflegeberufs zugeschnittene Maßnahmen zur Gesundheitsprävention und natürlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Konkret müssen außerdem Konzepte und Instrumente her, mit der die Arbeit der Pflegenden gesundheitserhaltend gestaltet werden kann. Dies sind nur einige der relevanten Punkte, die Liste ist noch viel länger.

Was steht auf dieser Liste noch ziemlich weit oben?
Enormen Handlungsbedarf sehen wir aber auch in anderen Bereichen. Die Qualität der Ausbildung und der Weiterqualifizierung in den Pflegeberufen muss verbessert werden. Außerdem müssen den Pflegerinnen und Pflegern Perspektiven für ihre berufliche Entwicklung gezeigt und Karriereaussichten attraktiver werden. Und natürlich benötigen sie eine starke Lobby. Denn die Sorgen und Anliegen der Pflegenden verdienen es, endlich mehr Gehör zu finden. Ihre Erwartungen und Erfahrungen verstärkt in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, ist ein ganz wichtiger Punkt in der Diskussion darüber, wie der Pflegeberuf interessanter gemacht werden kann.

Rheinland-Pfalz ist nationales Partnerland der Konferenz, die die „Flächendeckende Versorgung im ländlichen Raum“ auch im Programm hat. Gibt es Ihrer Erfahrung als Dienstleister nach regionale Unterschiede in Bezug auf die Häufigkeit der Beratung? Worin liegen diese begründet und wie kann man bessere Bedingungen in strukturschwachen Regionen schaffen?
Ja, wir können durchaus regionale Unterschiede in den Beratungen und Schulungen feststellen. Bundesweit besteht bei den Hilfesuchenden – den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen – ein hoher Beratungsbedarf. Dieser ist jedoch in den Großstädten durch die Vielzahl der vorhandenen Angebote – dazu zählen die Beratungsstelle von spectrumK, selbstständige Pflegeberater, Pflegestützpunkte etc. – grundsätzlich leichter zu decken als in den ländlichen Regionen. Der Gesetzgeber hat durch die Pflegestärkungsgesetze zwar dafür gesorgt, dass den Pflegebedürftigen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Doch diese können sowohl in den strukturstarken als auch in den strukturschwachen Regionen das Geld nicht für eine adäquate Pflege einsetzen, da nicht genügend Leistungserbringer für die benötigten Leistungen zur Verfügung stehen.

Wie kommt das?
Ein Grundproblem besteht darin, dass wir durch die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern keine einheitliche Vorgehensweise bei der Genehmigung und Bereitstellung der sogenannten haushaltsnahen Dienstleistungen haben. Dazu gehören zum Beispiel Einkaufen, Fensterputzen und Haushaltsarbeit. In Nordrhein-Westfalen haben wir das Modell der Nachbarschaftshilfe. Dies ermöglicht, dass Pflegebedürftige durch Bekannte oder Nachbarn versorgt werden können und die Pflegekassen entsprechende Leistungen – den Entlastungsbetrag von 125 Euro – zur Verfügung stellen. Dieses Modell kennt Baden-Württemberg nicht, also kann diese Leistung dort nicht abgerufen werden. So können wir in fast allen Bundesländern Beispiele finden, die zeigen, dass die Hilfesuchenden keine Chance haben, ihre Leistungsansprüche vollumfänglich geltend zu machen.

Leistungserbringer werden auch oft mit viel zu hohen Hürden, bestehend aus landesrechtlichen Regelungen, konfrontiert, um hilfsbedürftige Menschen zu unterstützen. Ein Beispiel aus der Praxis: Interessierte absolvieren eine Weiterbildung zur Betreuungskraft mit dem Umfang von 40 Stunden. Anschließend können sie ihre Kenntnisse aber nicht einbringen, da auf Landesebene gefordert wird, dass sie zur Ausübung ihrer Tätigkeit zusätzlich eine 450 Euro-Kraft einstellen müssen, die sie gegebenenfalls im Krankheitsfall vertreten kann. Diese zusätzlichen Kosten können sich viele aber nicht leisten. Die Weiterbildung war also umsonst und niemandem ist geholfen.

Wie kann man das Problem lösungsorientiert angehen?
Der Gesetzgeber ist hier gefordert, auch einen niedrigschwelligen Zugang für alle Leistungserbringer im Bereich der Betreuung und haushaltsnahen Dienstleistungen zu schaffen. Damit würde sichergestellt, dass Hilfe auch da ankommt, wo sie tatsächlich benötigt wird.

Aber die wirksamste Kritik ist immer das gute Beispiel. Deshalb freuen wir uns sehr, in diesem Jahr mit Rheinland-Pfalz ein Partner-Bundesland gewonnen zu haben, in dem viele kommunale Maßnahmen auf vorbildliche Art und Weise umgesetzt werden. Unter anderem kommt das Projekt Gemeindeschwesterplus zum Einsatz. Dabei geht es um ein Angebot für hochbetagte Menschen, die nicht pflegebedürftig sind, aber Unterstützung im Alltag benötigen. Das „Kümmern“ im Vorfeld einer möglichen Pflege ist ein wichtiger Beitrag dazu, dass Menschen ihr Leben so selbstständig und so lange wie möglich gestalten können. Ein weiteres Beispiel ist die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern in den Kommunen. Außerdem laufen in Rheinland-Pfalz verschiedene Ansätze, die zu einer Stärkung des Berufsbildes der Pflege und einer Aufwertung des Berufsstandes führen.

Die Digitalisierung ist mittlerweile kein Fremdwort mehr in der Pflegebranche. Inwieweit macht der Technikeinsatz Sinn, um Pflegebedürftige oder Angehörige zu Hause zu unterstützen und auch den Pflegefachpersonen die Arbeit zu erleichtern?
Klar ist, dass digitale Angebote Pflegende nicht ersetzen, sondern nur unterstützen können. Wichtig ist dabei, die Pflegenden stärker in die Entwicklung und Implementierung neuer Technologien einzubinden. Nur so lässt sich die Alltagstauglichkeit digitaler Maßnahmen sicherstellen. Um die vielen Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, muss schon bei der Ausbildung der Einsatz digitaler Techniken eine große Rolle spielen. Genauso wichtig ist es aber auch, fortlaufend Qualifizierungsangebote für langjährig in der Pflege tätige Fachkräfte anzubieten, um die erforderlichen Kompetenzen in der Digitalisierung zu vermitteln.

Genauso wenig wie in anderen Branchen, gibt es wohl auch in der Pflege nur brauchbare Projekte. Wie trennt man hier die Spreu vom Weizen?
Die fortschreitende Digitalisierung ist ein Prozess, der ein ständiges Reflektieren erfordert. Konkret heißt das, dass in begleitenden wissenschaftlichen Wirksamkeitsstudien der konkrete Nutzen eingesetzter Techniken nachgewiesen werden muss. So wird sichergestellt, dass der Einsatz bei Routinetätigkeiten das Pflegepersonal entlastet und sich zugleich neue Chancen der inter- und intraprofessionellen Vernetzung ergeben. Dadurch kann sich die Pflege auf die zwischenmenschliche Fürsorge konzentrieren. Eine große Herausforderung stellt der Transfer in die Pflegepraxis dar.

Einerseits muss die Kompetenz der Altenpflegefachkräfte erhöht werden, um digitalisierte Unterstützungstechnologien nicht nur bedienen, sondern kompetent nutzen zu können. Andererseits muss gemeinsam mit den Altenpflegefachkräften erörtert werden, wie aus einer Technikkompetenz der Beschäftigten neue Arbeitsinhalte und neue Dienstleistungsangebote für die Altenpflege entwickelt werden können.

Aber es gibt immer wieder geäußerte Vorbehalte und Sorgen, was die Digitalisierung anbelangt. Wie kann man dem begegnen?
Immer wieder geäußerte Befürchtungen, dass der Technikeinsatz die besondere kommunikative und emotionale Interaktionsbeziehung zwischen Pflegefachkraft und Pflegebedürftigem gefährden könnten, erfordern einen sensiblen Umgang. Die Führungskräfte und Verantwortlichen sollten diese Sorgen und Ängste thematisieren und offen diskutieren. So erlangen die enormen Potenziale der Digitalisierung Akzeptanz und entfalten ihre Wirkung gleichermaßen.

Sie feierten mit spectrumK in diesem Jahr das 10-jährige Bestehen. Wie wollen Sie in Zukunft Gesundheit gestalten?
Wir haben eine sehr erfreuliche Entwicklung in den vergangenen Jahren vollzogen und möchten dies natürlich fortsetzen – als verlässlicher Partner der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Das bedeutet, dass wir ständig den Bedarf unserer Kunden und Gesellschafter im Blick haben und mit neuen Ideen und Produkten weiter überzeugen möchten. Das Gesundheitssystem steht vor einem großen Wandel, die Digitalisierung wird viele Bereiche verändern. Wir betrachten das als durchweg positiv. Denn die wichtigsten Komponenten in unserer Arbeit – Qualität, Vertrauen und Verlässlichkeit – werden wir immer beibehalten. Unsere Werkzeuge werden sich verändern, wir werden neue Dienstleistungen anbieten und noch schneller und effizienter werden dank der technischen Entwicklungen. Aber wir werden den Weg gemeinsam mit unseren Partnern gehen. Denn davon profitieren am Ende alle, und besonders die gesetzlich Versicherten in Deutschland.

Herr Rawiel, vielen Dank für das Gespräch. <<

 


Ausgabe 03 / 2018