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„Das hat immer was mit Loslassen zu tun“

02.12.2019 10:54
Angehörigen-Entlastungsgesetz, Gesetz für bessere Pflegelöhne, Pflegeberufegesetz – „Es tut sich was“, wie Staatssekretär Andreas Westerfellhaus auf der 6. Berliner Pflegekonferenz ausrief. Für manch einen ist das Tempo, das vor allem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Sachen Gesetzgebung vorlegt, sogar zu hoch. Doch es brauche Bewegung, um möglichst zügig bessere Rahmenbedingungen und damit eine Attraktivitätssteigerung für die Pflege zu erreichen. Um diesen Weg gemeinsam zu gehen, fanden sich am 7. November Akteure aus Praxis, Politik, Wissenschaft und Forschung im Westhafen Event & Convention Center Berlin ein, um Ideen, Innovationen und auch unkonventionelle Konzepte auszutauschen und zu diskutieren. Mit Berlin als nationalem und Fiannland als internationalem Partnerland waren Ideen und Konzepte aus Ballungsraum und Flächenland prominent auf der Berliner Pflegekonferenz vertreten.

>> „Mich hat dieses Jahr bewegt, wie viele Kinder und Jugendliche in Deutschland in der Pflege arbeiten.“ Dass Yves Rawiel die diesjährige Berliner Pflegekonferenz mit diesen Worten eröffnete, macht den Stellenwert des Themas für den Geschäftsführer von spectrumK und Organisator der Veranstaltung deutlich. 230.000 diverse Familienmitglieder pflegende Kinder und Jugendliche sind es laut einer ZQP-Studie aus dem Jahr 2016 deutschlandweit. In Berlin alleine 11.000, wie Rawiel angab; und so sollte das Thema an diesem Tag noch in den Fokus rücken.

Politik muss für Entlastung sorgen

Moderator Jochen Schropp, als Schauspieler und Fernsehmoderator bekannt, kündigte den nächsten Redner wie folgt an: „Er trägt die Berufung nicht nur in seiner amtlichen Bezeichnung, er lebt sie auch.“ Der vom Gros des Auditoriums sicherlich daraufhin bereits identifizierte Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, lobte den der Bedeutung der Profession Rechnung tragenden Veranstaltungsrahmen der Pflegekonferenz, um sodann eine Brücke zu den Rahmenbedingungen der Pflege zu schlagen. Diese seien gerade für die größte Gruppe der Pflegenden, nämlich der der Angehörigen, noch lange nicht befriedigend. Und er sprach ihnen seinen Respekt für die Leistungen aus, da sie Einschränkungen im Alltag und auch Unsicherheiten im Bezug auf die eigene Altersversorgung über viele Jahre in Kauf nähmen. Viele Reports dokumentierten aktuell eine hohe physische sowie psychische Belastung der pflegenden Angehörigen und so müsse es Aufgabe der Politik sein, hier für größere Entlastung zu sorgen. „Wir haben Maßnahmen im Bereich der Rehabilitation und Prävention geschaffen“, die jedoch partiell nicht griffen, da beispielsweise der Anspruch auf Kurzzeitpflege durch fehlende Kurzzeitpflegeplätze nicht realisierbar sei, "Ich habe der Bundesregierung vor kurzem Vorschläge gemacht, und ich glaube, dass diese auch zum Erfolg führen können – weil andere habe ich bisher noch nicht gehört“, und aus verschiedenen Bundesländern gäbe es bereits posititive Signale, diese in die Erprobung zu bringen.

Auch eine Machtfrage

„Aber es ist nicht immer nur alles eine Frage der Finanzierung“, stellte der Pflegebevollmächtigte fest und verwies auf den herrschenden Fachkräftemangel. Oft würden hier aus der Berufsgruppe die schlechten Rahmenbedingungen genannt, wie mangelnde Pflegezeit oder wenig verlässliche Dienstpläne. Laut der „Pflege-Comeback-Studie“ aus dem letzten Jahr würden 48% der Berufsaussteiger, was rund 120.000 bis 200.000 Pflegefachkräften entspreche, bei besseren Bedingungen zurück. „Ja verdammt nochmal, dann müssen wir an diesen Rahmenbedingungen was tun“, sprachs und nahm damit auch die Kritiker und Verhinderer eines bundeseinheitlichen Tarifvertrages in die Pflicht.

Pflegebevollmächtigter Westerfellhaus forderte mehr Mut: „Wenn die Ideen gut sind, dann müssen wir das, was diese Ideen behindert, abschaffen, und nicht die Ideen aufgeben.“ Strukturen zu verändern sei tatsächlich eine der schwierigsten Übungen: „Das hat immer etwas mit Loslassen zu tun, das hat immer etwas mit Macht zu tun, das hat auch immer etwas mit Geld zu tun, und das hat immer etwas mit Ungewissem zu tun, weil man nicht genau weiß, wo die Reise hingeht.“ Apropos Mut: Die mancherorts kritisierte Aktivität Jens Spahns, als Bundesgesundheitsminister Gesetzesvorbereitungen sowie Gesetzesabschiede in Sachen Pflege in großer Zahl auf den Weg zu bringen, identifizierte der Staatssekretär als mutig und richtig. Die notwendige Bereitschaft nachzukorrigieren und nachzujustieren sei bei Spahn vorhanden.

Handlungsautonomie für die Pflege

Mehr Verbindlichkeit in der Umsetzung beschlossener Maßnahmen wünschte sich Westerfellhaus ausdrücklich von den 85 Teilnehmern der Konzertierten Aktion Pflege. Alle Verbände, Organisationen und Institutionen hätten sich dieser gesamtgesellschaftspolitischen Aufgabe zu stellen und eine ihm zu Ohren gekommene Abkehr einiger Akteure sei nicht hinnehmbar. Dagegen gab das zum 1.1.2020 in Kraft tretende Pflegeberufereformgesetz bei Westerfellhaus Anlass zur Freude. Zum ersten Mal seien hier Vorbehaltene Tätigkeiten geregelt und es sei an der Zeit, „die Profession endlich das machen zu lassen, wofür sie qualifiziert ist“. Und das eben auch berufsrechtlich, handlungsrechtlich, leistungsrechtlich abzusichern, „denn alles andere ist Verschwendung von Ressourcen“, konstatierte der Redner. Inhalte zur Ausgestaltung der Vorbehaltenen Tätigkeiten wie auch der selbständigen Ausübung der Heilkunde sei man gerade dabei auszuformulieren.

Westerfellhaus verspricht sich dadurch eine Attraktivitätssteigerung des Pflegefachberufes und eine Verbesserung der Versorgungssicherheit in den unterschiedlichen Strukturen – ländlicher Raum, Ballungszentrum, Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen. Als wenig attraktiv wertete der Staatssekretär das Thema Investitionskosten der Länder. Diese sind an der Ausgestaltung  der Qualifizierung der Ausbildung und der Studienangebote auch in der Verantwortung, stellten sich dieser jedoch nicht angemessen. „Ich bin in allen Bundesländern gewesen und da komme ich manchmal mit sehr viel Unverständnis zurück. Ein Beispiel: Wenn man die Schulkosten in Bayern bei den Budgetverhandlungen für die Schulen mit ca 11.000 pro Auszubildendem ausverhandelt hat und in meinem Heimatland (Nordrhein-Westfalen, Anm. d. Red.) mit rund 7.200 Euro ausverhandelt, kann das nicht funktionieren – bei einer einheitlichen professionellen Pflegeausbildung.“ Lehrermangel und eine nicht optimale Qualifizierung derselben gingen zulasten der Ausbildungsqualität.

Neue Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung

Die Angst vor dem Gespenst Digitalisierung wollte Westerfellhaus den anwesenden Berufsangehörigen nehmen. „Es geht um Entlastung“, sagte er, damit eine größere Konzentration auf die pflegerische Intervention möglich sei. Dringend Einzug müsse jetzt auch die elektronische Patientenakte halten und last but not least gelte es für die Profession, sich bei der Entwicklung von technischen und digitalen Lösungen einzumischen, um den Prozess und die Lösungen im Zuge der Entwicklung sinnvoller Lösungen mitzubestimmen. Mehr als sinnvoll bewertete der Staatssekretär auch die am 01.02.2020 an den Start gehende Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung (ZSBA), die Antragstellende aus dem Ausland durch das Anerkennungsverfahren begleiten soll, um die Verfahren zu beschleunigen.

Denn diese fachliche Unterstützung aus dem Ausland werde benötigt. „Es tut sich was!“, rief Westerfellhaus dem Auditorium entgegen und appellierte noch einmal an die 1,4 Millionen beruflich Pflegenden, sich zu solidarisieren und mit einer Stimme zu sprechen. Denn nur so könne man sich gegenüber Arbeitgebern und Politik stark positionieren. Der Begriff solidarisch fiel zum Abschluss von Westerfells Vortrag ebenso im Kontext einer anstehenden Reform der Pflegeversicherung, die notwendig sei, um den Eigenanteil der Bewohner stationärer Einrichtungen nicht ins Unermessliche steigen zu lassen.

Berlin im Bürgerdialog

Nach dem Applaus des Publikums konnte Westerfellhaus sich auch noch ein Lob der Berliner Senatorin Dilek Kalayci abholen, die dessen Engagement in Sachen Pflege auf Bundesebene würdigte. Mehr Enagagement hingegen forderte sie von der Gesellschaft, die sich klar darüber werden müsse, welchen Stellenwert die Pflegebedürftigkeit eines Menschen heute habe. In Berlin, so ließ Kalayci erkennen, stehe die Pflege politisch ziemlich weit oben auf der Agenda und so stellte sie beispielsweise das Projekt „Pflege 2030“ vor. Dabei sollen zukünftige Herausforderungen und Veränderungen im Rahmen eines Bürgerdialogs erörtert werden. „Es wird dabei keine Vorgaben geben. Im Mittelpunkt stehen die Hinweise, Tipps, Forderungen und Anregungen der Bürgerinnen und Bürger“, so Kalayci. Der Dialog „Pflege 2030“ beschreibe einen ganz neuen Ansatz, denn bisher sei die Ausgestaltung von Unterstützungs- und Hilfsstrukturen sowie Leistungsangeboten im Wesentlichen bestimmt durch drei Akteure: die Politik, die Kostenträger und die Leistungserbringer. Mit dem Dialog „Pflege 2030“ werde den Bürgerinnen und Bürgern nun eine Partnerrolle in diesen Ausgestaltungsprozessen gegeben. Ziel des Dialogs sei es, die künftigen Altenhilfe- und Pflegestrukturen in Berlin verstärkt an der Lebenswirklichkeit und Vielfältigkeit der Menschen auszurichten.

Neben dem Projekt „Pflege 4.0“, das sich um die Schulung der digitalen Kompetenz in der Schule bemüht und auch die Anbindung von stationären Einrichtungen an die Telematikinfrastruktur erreichen will, stellte die Senatorin den „Pakt für die Pflege“ vor, der den Fokus auf die Ausbildung richtet. Scharfe Kritik übte sie am privaten Berliner Arbeitgeberverband, der aufgrund der Aufnahme von Tarifverträgen in den Pakt aus selbigem ausgestiegen sei. „Arbeitgeber, die nicht verstanden haben, dass Tarifverträge die Branche aufwerten und die Traifverträge bekämpfen, haben den letzten Schuss nicht gehört“, erklärte Kalayci. Die Senatorin forderte zudem eine Lohnersatzzahlung für pflegende Angehörige, ähnlich wie das Ende August bereits Familienministerin Dr. Franziska Giffey mit dem „Familienpflegegeld“ getan hatte, welches sie als Rednerin im Rahmen der abendlichen Preisverleihung des Otto Heinemann- wie des Marie Simon Pflegepreises erneut tat. Als „tief sozialdemokratisches Projekt, das allerdings nicht im Koalitionsvertrag verankert sei“, wahrscheinlich eher mittelfristig zu denken. Giffey war es wichtig zu betonen, dass die Gesellschaft ein größeres Bewusstsein dafür entwickeln müsse, dass „die Pflege nicht nur ein Thema für das Alter, sondern ein Thema für alle Generationen“ sei. Die Berliner Pflegekonferenz bilde eine gute Plattform zum Austausch von Fachexpertise und neuen Ideen wie auch zur Kooperation mit neuen Partnern.

„Mach‘ Karriere als Mensch“

Die „riesengroße Zukunftsaufgabe Pflege“, die sich mit einer mittelfristigen Perspektive von bundesweit 4 Millionen Pflegebedürftigen als Herausforderung darstelle, könne nur in Zusammenarbeit bewältigt werden. dazu gehörten Bemühungen Fachkräfte zu halten und zurückzuholen, eine qualifizierte Ausbildung sowie ausländische Fachkräfte zu rekrutieren. Denn „die Fachkräfte, die wir heute brauchen sind schlichtweg nicht alle vor 20 Jahren geboren worden“, analysierte die Ministerin und so sei die Fachkräftethematik aus dem Ausland ein Schwerpunkt der Politik. Einen weiteren beschrieb Giffey mit der Werbung von Schulabgängern für die Profession. Dazu habe man im Oktober die bundesweite Kampagne „Mach Karriere als Mensch!“ gelauncht. Ziel sei, möglichst vielen Menschen zu vermitteln, dass das Pflegeberufegesetz neue attraktive Möglichkeiten für die Profession eröffne. Kampagnenmaterial – auf Wunsch auch mit individuellem Logo versehen – gebe es kostenlos beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. „Ich bin froh, dass das Gesetz für bessere Pflegelöhne durch den Bundestag ist, genauso wie das Angehörigen-Entlastungsgesetz“, so Giffey, denn dieser Gruppe müsse man auch ganz besondere Beachtung schenken. <<

Ausgabe 04 / 2019