Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2019 „Nur Deutschland verweigert sich“

„Nur Deutschland verweigert sich“

02.04.2019 11:18
Wie geht Pflege in Großbritannien, den Niederlanden, Schweden oder Kanada? Ob und welche Aspekte als Blaupause für eine strukturelle und organisatorische Novellierung der Pflege in Deutschland dienen könnten, hat Professor Michael Ewers, Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaften an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, mit einem Autorenteam im Auftrag der Stiftung Münch untersucht. „Wachsende Anforderungen in der Pflege erfordern fundiertere Kompetenzen“, erklärt Ewers. Was das für die Praxis bedeutet, zeigt die Publikation exemplarisch auf.
>> Dabei sei es nicht so, dass nicht auch die betrachteten Länder ähnliche Probleme wie Deutschland hätten: Rekrutierung von Fachkräften oder die Sicherung der pflegerischen Versorgung bei zugleich wachsendem Bedarf in allen Versorgungsbereichen seien Herausforderungen, die auch von anderen Ländern gemeistert werden müssten, stellen die Studienautoren klar.

Doch anders als in Deutschland fänden sich als Lösungsansätze größere Investitionen in die hochschulische Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen, in Maßnahmen zur Stärkung der Selbstorganisation und Selbstverantwortung der Pflege sowie in die Erweiterung pflegerischer Aufgaben- und Verantwortungsbereiche. Die Autoren haben zwei Ziele ausgemacht, die in den exemplarisch betrachteten Ländern jeweils die Ausrichtung der Maßnahmen bestimmen: Die Förderung der Attraktivität der Pflege als zukunftsfähiger Gesundheitsberuf und die Sicherung einer hochwertigen und innovativen gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung.

Die Pflegebildung in Deutschland nimmt eine berufs- und bildungsrechtliche Sonderstellung ein, in der Form, dass sie in den meisten Bundesländern nicht im dualen System, sondern in Form einer vollzeitschulischen Ausbildung stattfindet. Sie unterliege damit, anders als für berufsbildende Schulen üblich, meist nicht dem Schulrecht der Länder. Die Pflegeausbildung sei deshalb bezüglich Finanzierung, Ausstattung und Qualifikation des Lehrpersonals sowie unter Qualitätssicherungs- und entwicklungsaspekten benachteiligt. Die Autoren sehen hier klaren Handlungsbedarf; und dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Großbritannien, Schweden, die Niederlande und Kanada, wo die Aus- und Weiterbildung von Pflegenden in den regulären Bildungsstrukturen verortet und eine klare politische Rahmensetzung zur Erhöhung ihrer Kapazität und Qualität erkennbar sei.

„Die Novellierung der Ausbildung von Pflegefachpersonen durch das Pflegeberufegesetz, das 2020 in Kraft tritt, kann nur ein erster Schritt einer umfassenden Reform der Qualifizierungen und Berufsausübung in der Pflege sein“, betont Ewers. Dass Lehrer beispielsweise nicht durchgängig hochschulisch qualifiziert seien, zählt der Wissenschaftler als weiteres Manko auf und verweist damit auf das Feld der Akademisierung, das auch bei der pflegerischen Berufsausbildung eine größere Rolle spielen müsse.

Weiterentwicklung durch Akademisierung

„Hochschulische Qualifikation bietet die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln“, konstatiert der Wissenschaftler und verweist auf die auffallend hohen Investitionen in die vorwiegend hochschulische Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen der Beispielländer. In Großbritannien und Schweden, so geht aus den Untersuchungsergebnissen hervor, ist ein Hochschulstudium auf Bachelorebene mittlerweile für den Abschluss als Pflegefachkraft obligatorisch. Die Niederlande bieten – wie Deutschland – neben dem Studium eine traditionelle Berufsausbildung an, doch der Anteil der Absolventen mit Bachelorabschluss liege dort bereits bei rund 45%. Deutschland kann hier mit einer Quote von 2% graduiert Pflegender nur im marginalen Bereich landen.

„Um zu zeigen, dass die hochschulische Ausbildung in der Pflege nach dem Pflegeberufegesetz wirklich gewollt und nicht lediglich geduldet wird, sind konkrete Fördermaßnahmen auf Bundes- und Landesebene notwendig“, so Ewers und verweist auf promovierte Pflegewissenschaftler in der Onkologie oder Geriatrie im Ausland. Die Pflege brauche reflektierte Praktiker, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in Berührung kommen und die Erkenntnisse in den verschiedenen Feldern des Gesundheits- und Pflegewesens zur Anwendung bringen könnten.

Mehr Verantwortung wagen

Bessere Qualifizierung lässt auch mehr Verantwortung zu. „Wir finden in anderen Ländern Pflegende, die eigene Praxen unterhalten und Patienten versorgen“, sagt Ewers. Alles Gang und Gäbe in anderen Ländern, meint er, „nur Deutschland verweigert sich dem konsequent“.
Partnerschaftlich angelegte, teamorientierte und gesetzlich legitimierte Aufgabenneuverteilung wie in den Untersuchungsländern suche man in Deutschland vergebens. Hier werde meist am Prinzip der ärztlichen Delegation festgehalten, bei dem Pflegende als „verlängerter Arm des Arztes“ und auf dessen Anweisung tätig seien. Die Entwicklung innovativer Versorgungsformen, von denen letztlich Patienten und Pflegende gleichermaßen profitierten, würde damit nicht gefördert, sondern gehemmt. Die Forderung der Autoren ist eindeutig: eine Stärkung der Pflege durch neue Formen der Aufgaben- und Verantwortungsteilung.

Lösungsansätze mit den Betroffenen erarbeiten

Anders als in Deutschland ist laut Studie die Pflege im Ausland an der Entwicklung von Lösungen zum Erhalt der Gesundheitsversorgung aktiv beteiligt. Professionelle Interessensvertretungen des Berufsstandes hätten von der Politik das Recht und die Pflicht einer Mitbestimmung übertragen bekommen. Hier hingegen kämpften viele Akteure gegen Widerstände von Politik, Gewerkschaft oder der Ärztekammer, Pflegekammern zu installieren. Die Angst vor Machverlust und einer autonomen, quantitativ unwahrscheinlich großen Gruppe, die geschlossen auftretend mit starker Stimme sprechen und etwas bewegen könnte, macht Ewers als Motivatoren für diese Blockadehaltung aus.

„Wie anderen Gesundheitsprofessionen ist der Pflege auch in Deutschland sowohl das Recht als auch die Kompetenz zuzusprechen, ihre Belange und Interessen in eigener Verantwortung unter Berücksichtigung gesetzlicher Grundlagen zu organisieren und zu vertreten“, fordert Studienautor Ewers. Denn „was uns fehlt, sind Organisationen, die Standards, die Leitlinien setzen“. Wäre eine Kammeraufgabe, diese Institution ist bundesweit jedoch noch Mangelware.

Auf dem Weg zu Standards und Leitlinien

An der Charité beispielsweise, informiert Ewers, werde im Rahmen des neuen Pflegeberufegesetzes gerade ein Bachelor-Pflegestudiengang entwickelt. „Wir schielen immer nach Kanada, weil es in den jeweiligen Provinzen kammerähnliche Einrichtungen gibt und die haben aus der Profession heraus sehr viele Standards und Leitlinien entwickelt.“ Zum Beispiel die Struktur derartiger Bachelorprogramme, Orientierungshilfen für die Kompetenzentwicklung, Anforderungsprofile oder den Übertrag in die Praxis. Doch klagen hilft wenig: „Wir sitzen jetzt an der Charité und versuchen anhand der internationalen Programme ein Studienprogramm zu entwickeln, aber es konstituiert sich eben nicht aus der deutschen Pflege heraus. Wir müssen gucken, was wir übernehmen können“, so der Pflegewissenschaftler, der jedoch beobachtet, dass der Widerstand seitens der Kammergegner „bröckelt“ und der noch einmal eindringlich daran erinnert, dass die Kammer ebenso „gewährleistet, dass Patientensicherheit zum zentralen Auftrag der Pflege gemacht wird“.

Bei der Frage nach einer angemessenen und fairen Entlohung sagt Ewers: „Die Frage ist, wie verteilen wir die Mittel in unserem Vergütungssystem für erbrachte Leistungen? Wenn ich die Pflege immer nur auf Assistenz- und Hilfstätigkeiten reduziere, kann ich sie auch billig vergüten. Wenn ich sie mit anspruchsvollen Aufgaben betraue, und ihr ermögliche, sichtbar einen Beitrag zur Gesundheitsversorgung, -förderung oder -prävention zu leisten, dann muss ich das auch entsprechend vergüten.“ Der Berliner Wissenschaftler spricht sich für einen Qualifikationsmix von hochschulisch sowie beruflich Qualifizierten, von Masterabsolventen oder denen mit Promotion, und auch von Pflegehilfskräfte und -assistenten aus, deren Zusammensetzung je nach Bedarf des Pflegesettings eruiert werden müsse.

Auf dieser Grundlage, so die Studienautoren, werden in den untersuchten Ländern Großbritannien, Schweden, Kanada und den Niederlanden zahlreiche soziale Innovationen auf den Weg gebracht. Selbstorganisierte Pflegeteams und „Pflege­bauernhöfe“ engagierten sich beispielsweise mit Kommunen und Nachbarschaften für den Aufbau regionaler Versorgungsnetzwerke. Oder Pflegeheime würden zu Innovationszentren, um Studierende für die Langzeit­versorgung ausbilden und gewinnen zu können, wodurch zugleich die Pflegequalität und die Patientensicherheit in diesen Einrichtungen verbes­sert würde. Es lohnt sich also, den Blick über den Tellerrand schweifen zu lassen, um Inspiration für die Weiterentwicklung einer starken Pflege in Deutschland zu erhalten. <<

Ausgabe 01 / 2019