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„Pflege zukunftsfähig gestalten“

07.10.2019 16:15
Finnland und Berlin stehen als Partnerländer der 6. Berliner Pflegekonferenz am 07.11.2019 symptomatisch für die Versorgungsgegensätze, die Deutschland zunehmend bewegen. Um die Herausforderungen von Flächenland und Ballungszentrum in Zukunft meistern zu können und weitere Fragen im Kontext der Pflege zu diskutieren, treffen sich Vertreter aus Wissenschaft, Politik, Forschung und dem Pflegefachpersonal auf der von spectrumK bereiteten Bühne des Westhafen Event & Convention Center Berlin. Kooperationspartner der Veranstaltung sind der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) sowie der BKK Dachverband e.V. und der IKK e.V. „Monitor Pflege“ hat spectrumK-Geschäftsführer Yves Rawiel im Vorfeld der Veranstaltung zu den Topthemen des interdisziplinären Dialogforums befragt.

>> Herr Rawiel, am 7. November veranstaltet spectrumK zum sechsten Mal die Berliner Pflegekonferenz. Seit 2014 hat sich die Pflege enorm verändert. Pflegestärkungsgesetze, Pflegebedürftigkeitsbegriff, Pflegeberufe-Reform sind nur einige Beispiele. Welches Thema gehört für Sie jetzt ganz oben auf die Agenda?
Eine menschenwürdige und zukunftsfähige Versorgung unserer älteren oder pflegebedürftigen Menschen, ist und bleibt eine der zentralen Aufgaben unserer Zeit. Ich sehe mehrere Themen dazu ganz oben auf der Agenda.
In unseren Pflegeberatungen erfahren wir tagtäglich, wie wichtig Transparenz über die Qualität der Anbieter für eine gute Versorgungsentscheidung ist. Die Pflegenoten haben hier keine Verbesserung gebracht. Ich begrüße daher die Einführung des neuen Pflegetransparenzsystems und ich hoffe, dass es in seiner Umsetzung viel stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtet wird.

Der Fachkräftemangel rangiert wahrscheinlich auch ziemlich weit vorne.
Fachkräftesicherung ist ein Thema, dass uns von Anfang an beschäftigt hat und dessen Bedeutung leider noch zunimmt. Die Ausbildungsoffensive im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege hat ganz klar die Begeisterung des Nachwuchses für den Pflegeberuf im Fokus und ich bin gespannt auf die Diskussion mit dem Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus.
Nicht vergessen dürfen wir die pflegenden Angehörigen. Sie leisten Unschätzbares in der Versorgung Pflegebedürftiger. Es ist richtig, dass sie durch die Neuregelungen zu den Nutzungsmöglichkeiten von Entlastungsleistungen unterstützt werden.

Für alle diese Themen halte ich die Frage für sehr wichtig, wie eine langfristige und stabile Finanzierung sichergestellt werden kann. Das funktioniert nur, wenn alle beteiligten Akteure miteinander in den Austausch treten. Ich bin überzeugt, dass wir mit der Berliner Pflegekonferenz als Austauschplattform rund um die Pflege einen wichtigen Beitrag dazu leisten.

Künstliche Intelligenz und Big Data in der Pflege stehen auf der Agenda der Pflegekonferenz 2019. Mit dem „PflegeCoach“ oder der Sturz-App von Lindera sind Sie als Unternehmen ebenfalls an der Umsetzung und Verbreitung digitaler Projekte in der Pflege beteiligt. Was können digitale und KI-Projekte in der Pflege leisten?
Digitalisierung findet in der Pflege auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt. Pflegeschulungen tragen nachweislich zur Verbesserung der Betreuung Pflegebedürftiger bei. Mit dem PflegeCoach können Angehörige zeitlich flexibel und ortsunabhängig geschult werden. Der Mobilitätstest per App integriert ärztliches und pflegerisches Knowhow, so dass bereits bei der Pflegeberatung das Sturzrisiko eingeschätzt und entsprechende Hilfen in den Versorgungsplan aufgenommen werden können. Bei diesen Beispielen trägt die Digitalisierung dazu bei, fachliche Expertise schneller und effizienter zugänglich zu machen – ein Thema, dass gerade in Hinblick auf den Fachkräftemangel und die geringe Versorgungsdichte im ländlichen Raum sehr aktuell ist.

Einen weiteren, großen Vorteil sehe ich darin, Prozesse und Informationen zu vernetzen. Unser Gesundheitssystem ist extrem leistungsfähig. Aber wenn es darum geht, den Patienten – insbesondere ältere oder demenzkranke Menschen – durch das System zu begleiten, versagt es. Digitale Lösungen können hier den Informationsfluss über Sektorengrenzen hinweg sicherstellen.

Das Problem stellt meistens der Transfer in die Praxis dar. Wie ist Ihre Erfahrung mit diesem Transfer und welche Weichen müssen für eine größere Effizienz an dieser Stelle noch gestellt werden?
Ein Problem ist die Finanzierung. Die Kosten dürfen weder einseitig auf den Nutzer, noch auf die Pflegeeinrichtungen umgelegt werden. Wir müssen transparent machen, wo Kosten und Aufwände, aber auch wo Ersparnisse und Effizienzgewinne entstehen, um gemeinsame Lösungen zu finden.
Die technische Kompatibilität der Systeme ist ein weiteres Hindernis. Insbesondere technische Anbieter müssen hier auf Offenheit achten, damit sich ihre Lösungen etablieren können.

Und die Nutzer müssen stärker in den Fokus rücken und damit meine ich in diesem Fall das Pflegepersonal. Spannend finde ich in diesem Zusammenhang die Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, durch die ein Pflegeinnovationszentrum und vier Pflegepraxiszentren ins Leben gerufen wurden. Lösungen in größerem Maßstab im Pflegealltag zu testen und gemeinsam mit dem Pflegefachkräften weiter zu entwickeln halte ich für einen wichtigen Ansatz, um die Digitalisierung in der Pflege so voran zu bringen, dass sie auch wirklich Ressourcen schafft und entlastet.

Flächenland und Ballungsraum – Finnland und Berlin sind dieses Jahr die Partnerländer der Pflegekonferenz; und bilden damit ziemlich treffend die Herausforderungen für die zukünftige Pflege in Deutschland ab. Welche strukturellen Änderungen halten Sie in den Flächenländern für notwendig, die durch zunehmende Abwanderung in die Städte besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind?

Aus meiner Sicht kommt der Beratung von Pflegebedürftigen bzw. deren Betreuungspersonen hier eine Schlüsselfunktion zu. Denn umfassend informierte Hilfesuchende können zielgerichtet Angebote abfragen und Leistungen beantragen. Gute Beratungsangebote führen daher zu einer besseren Versorgung und stützen den Grundsatz „ambulant vor stationär“. Dies ist ganz besonders vor dem Hintergrund knapper Angebote und Ressourcen im ländlichen Raum relevant.

Welche Optimierungsmöglichkeiten sehen Sie hier?

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Angebote, die sich an Pflegebedürftige und Pflegepersonen richten, sind immer noch sehr komplex und schwer nachvollziehbar. Ein einfacherer Zugang zu Angeboten und Informationen könnte geschaffen werden, wenn die bestehenden, guten Beratungsangebote deutlich besser vernetzt und prominenter aufgestellt werden.

Zu diesem Thema hatte ich anlässlich der 4. Berliner Pflegekonferenz 2017 gemeinsam mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund das Positionspapier „Pflege in der alternden Gesellschaft“ vorgestellt. Wir haben darin skizziert, welche Herausforderungen wir aktuell in der Pflege sehen und einen Schwerpunkt auf den ländlichen Raum gesetzt, denn durch die Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung und den Verbleib der älteren Menschen ist hier die Situation deutlich kritischer als in den Ballungszentren.
Leider sind die von uns aufgestellten Forderungen weiterhin sehr aktuell – aus meiner Sicht vor allem weil bislang keine entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen wurden und nicht geklärt wurde, wie Kosten verteilt werden.

Mit dem Otto Heinemann Preis zeichnen spectrumK, der IKK e.V. und der BKK Dachverband Arbeitgeber aus, die bereits vorbildliche Lösungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf entwickelt haben. Brauchen Angehörige mehr Unterstützung, damit diese, die Pflege in Deutschland sicherstellende quantitativ größte Klientel, dauerhaft Pflege leisten kann?
Definitiv brauchen die Angehörigen mehr Unterstützung. Wie Sie sagen, die Angehörigen tragen den größten Teil der Pflege. Ohne ihren Einsatz könnten wir die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland schon längst nicht mehr sicherstellen. Besonders anzuerkennen ist, dass durch die demografische Entwicklung zunehmend mehr pflegende Angehörige im Berufsleben stehen und häufig sogar noch parallel erziehungspflichtige Kinder betreuen. Für die Entlastung bei dieser Doppel- und Dreifachbelastung kommt den Arbeitgebern eine Schlüsselrolle zu. An der steigenden Zahl der Bewerber auf unseren Otto Heinemann Preis für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege lese ich hier eine sehr erfreuliche Entwicklung ab.
Auch der Gesetzgeber unterstützt und gibt sehr positive Signale für die Bedeutung des Themas. Aber aus den Bewerbungen lernen wir, dass einige Angebote, beispielsweise die gesetzliche Pflegezeit, selten genutzt und eher individuelle Lösungen gesucht werden. Mit dem Wettbewerb schaffen wir eine Plattform zum gegenseitigen Austausch, um hier die Angebote für alle Seiten nutzenbringend weiterzuentwickeln.

Mit Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat der Preis einen prominenten Schirmherrn, was den Stellenwert des betrieblichen Engagementes für Mitarbeiter, die gleichzeitig pflegende Angehörige sind, unterstreicht.
Ich freue mich sehr, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Schirmherrschaft über den Wettbewerb übernommen hat. Aus meiner Sicht erfahren so die Arbeitgeber, die mit ihren Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten, eine ganz besondere Wertschätzung.

Herr Rawiel, vielen Dank für das Gespräch. <<

Ausgabe 03 / 2019