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Reformen: nicht nur nötig, sondern möglich

05.08.2019 18:18
Wie sieht gute Pflege aus? Wie viele Fachkräfte benötigt ein Pflegeheim, um eine fachgerechte Versorgung sicherzustellen? Bisher fehlt ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Bemessung des Personals in Pflegeeinrichtungen, um diese Frage beanatworten zu können. Eine Projektgruppe der Universität Bremen um Leiter Professor Dr. Heinz Rothgang ist mit dem Projekt zur Entwicklung eines einheitlichen Personalbemessungsverfahrens im Juli 2017 beauftragt worden. Doch alleine dieses Instrument wird es nicht richten, weiß Rothgang und verweist vor allem auf das zu nivellierende Lohngefälle zwischen Krankenhäusern und Dauerpflegeeinrichtungen. Welche Reformschritte er überdies für die soziale Pflegeversicherung für sinnvoll hält, erklärt er im Gespräch mit „Monitor Pflege“.

>> Herr Professor Rothgang, Sie sind mit dem Projekt beauftragt, ein einheitliches Personalbemessungssystem für die stationäre Altenpflege zu entwickeln. Wie gehen Sie vor und in welcher Phase befindet sich das Projekt?
Mit dem PSG II hat der Gesetzgeber der gemeinsamen Selbstverwaltung in der Pflege den Auftrag erteilt, bis Juni 2020 ein einheitliches Personalbemessungsinstrument für die Langzeitpflege zu entwickeln und zu erproben. Dazu soll sie sich wissenschaftlichen Sachverstands bedienen. Nach einer europaweiten Ausschreibung sind wir an der Universität Bremen mit einem entsprechenden Projekt beauftragt worden, das im Herbst 2019 die Entwicklungsergebnisse an die Selbstverwaltung übergeben wird.
Das wird im Kern ein mathematisches Modell sein, das für Pflegeheime in Abhängigkeit von deren Bewohnerstruktur die bedarfsgerechte Pflegepersonalmenge und -struktur ausweist. Um diese Berechnungen empirisch abgesichert durchführen zu können, haben wir mehr als ein halbes Jahr in Pflegeeinrichtungen in einem sehr aufwändigen Verfahren Daten erhoben, die aussagen, welcher Pflegebedürftige wie oft welche Intervention benötigt, welche Zeit dafür erforderlich ist und mit welchem Qualifikationsniveau jede einzelne Intervention erbracht werden muss.

Was können Sie uns zu ersten Zwischenergebnissen sagen?
Wenig überraschend zeigt sich, dass ein Bedarf an zusätzlichem Personal in den Pflegeeinrichtungen besteht. Über den konkreten Umfang dieses Mehrbedarfs kann ich noch keine quantitativen Aussagen machen, es deutet aber alles auf einen Mehrbedarf sowohl bei Assistenz- als auch bei Fachkräften hin, wobei dieser bei Assistenzkräften stärker ausgeprägt ist.

Sind Sie zuversichtlich, dass das Personalbemessungssystem in der Form eine Umsetzung in die Praxis erfährt?
Ich bin zuversichtlich, dass unsere Projektergebnisse dazu verwendet werden, ein flächendeckendes Bemessungsinstrument in der Gesetzgebung zu verankern. Hierzu haben sich die Partner der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) übrigens auch erstmalig im letzten Monat verpflichtet. Zuvor war – und so steht es auch im Gesetz – nur von der Entwicklung und Erprobung des Instrumentes, nicht von seiner Einführung die Rede. Mit den Beschlüssen der KAP sind die Zeichen jetzt aber deutlich auf Umsetzung gestellt worden.

Insgesamt werden in der Pflegebranche mehr Fachkräfte gebraucht. Ein Instrument soll hier eine bessere Bezahlung sein. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat kürzlich erst einen Mindestlohn von 14 Euro für qualifizierte Pflegefachkräfte vorgeschlagen. Für Sie eine sinnvolle Maßnahme?
Bereits jetzt haben wir in der Altenpflege einen bundesweiten Fachkräftemangel, der schon allein aufgrund der demographischen Entwicklung weiter zunehmen wird. In der Krankenpflege geht die Bundesagentur für Arbeit von Fachkräftemangel in 13 von 16 Bundesländern aus. Um dieses Problem zu lösen, muss der Pflegeberuf attraktiver werden. Ein zentrales Element dafür ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch auskömmliche Personalbemessung, ein anderes aber auch die Bezahlung.

Ein Mindestlohn in der vorgeschlagenen Höhe kann nur ein erster Schritt sein, um für die Beschäftigten, die nicht nach Tarif bezahlt werden, eine Untergrenze einzuziehen – der Tariflohn liegt ja schon höher, und das Medianentgelt einer sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigen Pflegefachkraft liegt derzeit bei knapp 3.000 Euro. Bezogen auf eine wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden entspricht dies einem Stundenlohn von 18 Euro.

Für die Langzeitpflege von noch größerer Bedeutung, ist es jedoch, das Lohngefälle zwischen Krankenhäusern und Dauerpflegeeinrichtungen aufzuheben. Noch immer werden in der Altenpflege rund 600 Euro weniger gezahlt als im Krankenhaus – und das wohlbemerkt bei gleicher Qualifikation der Pflegekräfte. Wird diese Lücke nicht geschlossen, werden die in Zukunft generalistisch ausgebildeten Pflegekräfte kaum ihren Weg in die Altenpflege finden.

Oder kommt die Branche – und damit auch die privaten Heimbetreiber – nicht an einem Flächentarifvertrag vorbei?
Ob die höheren Löhne durch einen für allgemein verbindlich erklärten Flächentarifvertrag erreicht werden oder durch einen branchenspezifischen Mindestlohn ist letztlich nicht entscheidend. Klar ist aber, dass die Entlohnung verbessert, und in der Altenpflege sogar massiv verbessert werden muss. Dem können sich auch die privaten Betreiber nicht verschließen, denn letztlich haben wir aktuell – und auf absehbare Zeit – einen Arbeitnehmermarkt, bei dem es mehr offene Stellen gibt als qualifizierte Bewerber. Pflegekräfte können also auswählen, welchem Arbeitgeber sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen wollen. In Konsequenz führt dies dazu, dass sich die Langzeitpflege von einem Preiswettbewerb um Kunden weg und zu einem Lohnwettbewerb um Pflegekräfte hin entwickeln wird. Denn die Einrichtungen, die deutlich unter Tarif bezahlen, werden kein ausreichendes Personal mehr vorhalten können, um den Betrieb dauerhaft aufrecht zu erhalten.

Damit diese Mehrausgaben nicht durch einen steigenden Eigenanteil der Pflegebedürftigen finanziert werden, braucht es eine Reform der Pflegeversicherungsfinanzierung. Wie sieht eine solche optimalerweise für Sie aus?
Das ist im Moment das größte systematische Problem in der Pflegeversicherung: Wir müssen die vorhandenen Pflegekräfte angemessen bezahlen und bedarfsgerechte Pflege durch mehr Personal ermöglichen – wenn uns das gelingt, zahlt aber der Pflegebedürftige allein die Zeche: Durch die in ihrer Höhe begrenzten Leistungen der Pflegeversicherung wird jede kostenwirksame Qualitätsverbesserung durch eine Erhöhung der Pflegesätze nämlich direkt an die Pflegebedürftigen weitergereicht. Die ohnehin derzeit schon kaum zu finanzierenden Eigenanteile werden bei höherer Entlohnung der Pflegekräfte und mehr Personal in den Einrichtungen weiter wachsen – und dann immer mehr Pflegebedürftige finanziell überfordern und diese in den Sozialhilfebezug treiben. Somit erreichen wir – durch eine dysfunktionale Finanzierungsmechanik –, dass gerade Qualitätsverbesserungen zu dem führen, was durch die Einführung der Pflegeversicherung bekämpft werden sollte: dass Pflegebedürftigkeit regelmäßig zum Sozialhilfebezug führt.

Ein komplexes Problem.
Es gibt jedoch eine relativ einfache Gegenmaßnahme: Wenn die Pflegeversicherung alternativ so ausgestaltet wird, dass Pflegebedürftige einen festen Sockelbetrag zahlen, während die Pflegeversicherung die weiteren Kosten bis zu einer bedarfsgerechten Höhe übernimmt, könnte dem entgegen gewirkt werden. Die Eigenanteile werden begrenzt und die Pflegebedürftigen wissen, was die Pflege sie höchstens kosten kann. Zusätzlich schaffen wir damit endlich eine Pflegeversicherung, die den Begriff Sozialversicherung zu Recht trägt und in der Lage ist, den Lebensstandard der Pflegebedürftigen abzusichern. Genau zu diesem Zweck wurde die Pflegeversicherung schließlich 1994 eingeführt.

Was halten Sie von einer Zusammenlegung von Kranken- und Pflegeversicherung? Ist das mehr als ein utopisches Denkmodell?
Das Nebeneinander von wettbewerblich organisierter Krankenversicherung und einer Pflegeversicherung als Einheitsversicherung, in der bei gleichem Beitragssatz und gleichen Leistungen aller Kassen alle Ausgaben aus einem Ausgleichsfonds bestritten werden, führt in der Tat zu Verwerfungen.
So sind Rehabilitationsmaßnahmen, die Pflegebedürftigkeit verhindert oder deren Ausmaß begrenzen können, für Kassen ökonomisch unattraktiv, weil sie Ausgaben in der Krankenversicherung produzieren, die die Kasse im Wettbewerb belasten, gleichzeitig aber in der Pflegeversicherung zu Entlastungen führen, die an alle weitergegeben werden. Dies führt dazu, dass wir zu wenig Rehabilitation bei Pflegebedürftigkeit haben. Ähnlich ist es für eine Kasse ökonomisch attraktiver, wenn der Pflegebedürftige stationär versorgt wird, weil die Kasse dann die Ausgaben für häusliche Krankenpflege spart, die wiederum ihre Position im Krankenkassenwettbewerb schmälern. Derartige Fehlanreize könnten durch Zusammenlegung von Kranken- und Pflegeversicherung vermieden werden.

Welches Hindernis sehen Sie dann für eine Zusammenlegung?
Die Pflegeversicherung zielt nicht nur auf medizinische Versorgung ab, sondern auf den Erhalt von Selbständigkeit, auf die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe – und das im Zusammenspiel mit der informellen Pflege, die immer noch das Rückgrat unserer pflegerischen Versorgung bildet. Diese Spezifika, die in der Pflegeversicherung beachtet werden, drohen unter die Räder zu kommen, wenn die Pflegeversicherung in die Krankenversicherung integriert wird und dann eine Medikalisierung der Pflege droht. Inzwischen bin ich daher gar nicht mehr davon überzeugt, dass eine solche Integration insgesamt sinnvoll ist. Für wahrscheinlich halte ich sie sowieso nicht.

Wunsch und Wirklichkeit: Wie schnell sollte das System reformiert werden und wie lange wird eine Reform wohl vermeintlich dauern?
Wir haben jetzt über zwei verschiedene, sich aber bedingende Reformschritte gesprochen. Die Einführung eines einheitlichen Personalbemessungsinstrumentes ist schon in Planung. In der KAP wurde beschlossen, dass das Bundesgesundheitsministerium eine Roadmap für den Einführungsprozess erarbeitet und die hierfür erforderlichen Vorbereitungen bereits im Sommer 2019 beginnen. Tatsächlich kann ein solches Verfahren nicht von einem auf den anderen Tag eingeführt werden, da das Personal dafür nicht vorhanden ist und die Einrichtungen sich auch organisatorisch auf einen möglicherweise anderen Qualifizierungsmix einstellen müssen. Gleichzeitig darf die Einführung nicht auf unbestimmte Zukunft verschoben werden. Vielmehr muss ein deutliches und belastbares Signal gesetzt werden, dass sich die Arbeitsbedingungen verändern werden und der Beruf so attraktiver wird.

Was schlagen Sie demnach vor?
Sinnvoll ist eine schrittweise Einführung der Personalbemessung, die über einige Jahre parallel zu verstärkten Rekrutierungsbemühungen und Ausbildungsoffensiven umgesetzt wird. Vorbild könnte etwa die Konvergenzphase bei Einführung der DRG-basierten Fallpauschalen zur Krankenhausfinanzierung sein. Hier reden wir wohl von einem Zeitraum von insgesamt ein bis zwei Legislaturperioden. Gleichzeitig müssen wir vermeiden, dass die besseren Arbeitsbedingungen der größeren Zahl an Pflegenden nur auf dem Rücken der Pflegebedürftigen finanziert werden. Hier halte ich – als zweiten Reformschritt – systematisch eine Umstellung auf begrenzte Sockelzahlungen für alternativlos. Diese sollte mit der Einführung der ersten pflegesatzwirksamen Stufe der Personalmehrung im Jahr 2020 oder 2021 erfolgen. Ich kann allerdings nur hoffen, dass die Politik wirklich die Kraft für diesen Schritt aufbringt und sich nicht stattdessen mit Ad-hoc-Maßnahmen behilft, die das systematische Problem unbearbeitet lassen.

Apropos Tempo – Ob Pflegestellenfördergesetz, KAP oder Mindestlohn, Bundesgesundheitsminister Spahn legt da ja ein ordentliches vor. Ist die Konzertierte Aktion Pflege für Sie ein erfolgreiches politisches Projekt, aus dem sich effektive Maßnahmen zur Verbesserung der Situation ableiten lassen?
Minister Spahn hat aus meiner Sicht viele wichtige Dinge angestoßen – und das mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit. Dass dabei die Umsetzung der einzelnen Projekte manchmal schwieriger ist und systematisch bessere Lösungen oft aufwendiger sind, ist wenig überraschend. Genau dem scheint die KAP aber Rechnung zu tragen. Sie brachte alle wesentlichen Akteure an einen Tisch und führte im Endergebnis zu einer großen Anzahl von Perspektiven, Absichtserklärungen und Selbstverpflichtungen. Sie hat also das geschafft, was in der aufgewendeten Zeit möglich war: sie hat Kernprobleme eingebracht und zu Strategieplänen geführt.
Wie belastbar die Verbindlichkeit der gegebenen Erklärungen letztlich ist, werden wir allerdings erst dann sehen, wenn die Einlösung auch einmal weh tut. Da bin ich neugierig und gespannt, halte aber große und wichtige Reformen nicht nur für nötig, sondern auch für möglich. Vorraussetzung dafür ist allerdings, dass das öffentliche Interesse an diesem Thema hoch bleibt und die Akteure so gezwungen werden, manchmal auch über ihren eigenen Schatten zu springen.

Herr Professor Rothgang, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte Redakteurin Kerstin Müller, M.A.

Ausgabe 02 / 2019