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Stabilisierung des Pflegealltags

07.10.2019 16:19
Den Blick auf den „größten Pflegedienst Deutschlands“ gerichtet, geben die Gesundheitsforen Leipzig mit ihrem Trend-Dossier „Wer pflegt Deutschlands größten Pflegedienst? Die pflegenden Angehörigen als zentrale Säule der pflegerischen Versorgung“ einen Impuls zur Stärkung dieser Klientel, „die ganz wesentlich das professionelle und damit kommerzielle Pflegesystem entlasten, das vor dem Hintergrund des Pflegekräftemangels und begrenzter finanzieller Ressourcen anderenfalls schnell kollabieren würde“, wie der Autor Chris Behrens feststellt. Er ist Unternehmensbereichsleiter Pflege und Pflegestützpunkte bei der AOK Nordost.

>> Familienministerin Franziska Giffey hatte in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ im August vorgeschlagen, dass der Staat pflegende Angehörige für ihre Arbeit entlohnt. Als „gesellschaftliche Zukunftsaufgabe“ bezeichnete die Ministerin das Projekt, die Pflege der bis 2050 geschätzten 4,5 Millionen Pflegebedürftigen sicherzustellen. Die Notwendigkeit, die Versorgung der aktuell rund 3,4 Millionen pflegebedürftigen Menschen durch die Stärkung der pflegenden Angehörigen zu sichern, sieht auch Chris Behrens von den Gesundheitsforen Leipzig. Im Trend-Dossier „Wer pflegt Deutschlands größten Pflegedienst?“ beleuchtet Behrens die Lebenswirklichkeit der pflegenden Angehörigen und zeigt Schwachstellen im System auf.

„Um die Pflege in Deutschland ressourcentechnisch langfristig auf ein stabiles Fundament zu stellen, muss die Unterstützung, Mobilisierung und Stabilisierung pflegender Angehöriger absolut im Fokus stehen“, gibt der Autor die Marschrichtung vor und beziffert die Zahl der pflegenden Angehörigen unter Berufung auf eine Hochrechnung des Robert Koch-Institutes aus dem Jahr 2012 mit 4,5 Millionen. Diese betreuten im Jahr 2018 2,6 Millionen Pflegebedürftige zu Hause, davon rund 1,8 Millionen ohne Unterstützung eines Pflegedienstes. Behrens weist auf die hohe „Dunkelziffer“ hilfsbedürftiger Senioren hin, die noch keinen Pflegegrad hätten und trotzdem auf die Unterstützung ihrer Angehörigen angewiesen seien. Der Wunsch, möglichst lange in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben, werde durch pflegende Angehörige ermöglicht, die durch ihren Einsatz das professionelle und damit kommerzielle Pflegesystem entlasten und vor dem Hintergrund des Fachkäftemangels sowie begrenzter finanzieller Ressourcen das Kollabieren des Systems verhinderten.

„Wenn man die Stundenzahl, die pflegende Angehörige aufwenden, mit dem heutigen Mindestlohn multipliziert, dann liegt die Wertschöpfung bei sage und schreibe rund 37 Milliarden Euro pro Jahr. Eine gewaltige Summe, wenn man bedenkt, dass die Pflegeversicherung selbst nur ein Einnahmevolumen von rund 26 Milliarden Euro umfasst“, bezieht Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK Bundesverbandes Position.

Den komplexen Lebenssituationen gerecht werden

Der Autor des Dossiers identifiziert eine Vielzahl unterstützender Angebote für pflegende Angehörige, die allerdings die Attribute niedrigschwellig oder individuell nicht immer verdienten. So kennen laut einer Befragung des Wissenschaftlichen Institutes der AOK Nordost (WidO) von 2016 die meisten pflegenden Angehörigen zusätzliche Unterstützungsangebote, die Mehrheit nutzt sie jedoch nicht. Um dem entgegenzuwirken und der komplexen Lebenssituation pflegender Angehöriger besser Rechnung zu tragen, stellt Behrens als ersten von drei Punkten „Innovative Kommunikationsansätze gegen Zeitknappheit in der Pflege“ vor. So gebe es neben den zahlreichen initialen Informations-Angeboten der Pflegekassen, Pflegestützpunkten etc. ebenfalls im Internet vielseitige Möglichkeiten sich zu informieren – auch für den Fall, dass eine Pflegesituation am Wochenende eintreten sollte.

Zeitknappheit: Innovative Kommunikationsansätze

Informationsflut und unbekannte Fachtermini bildeten hier jedoch eine Barriere. Als Lösungsansatz stellt Behrens die dialogbasierte und geführte virtuelle Pflegeberatung mit Chatbot-Technologie vor. Diese digitale Pflegeassistenz biete der heterogenen Zielgruppe aus pflegenden Kindern und Jugendlichen, Pflegenden mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund und denen mit Migrationshintergrund zielgenaue Auskunft und Beratung. Dabei greife das auf NLP (Neuro-linguistisches Programmieren) basierende Tool auf die klar strukturierten Prozesse, die am Beginn einer Pflege stehen, zurück und führe den Nutzer individuell zu den für ihn relevanten Wissensdatenbanken, Pflegeangebote oder auch Formulare.

Einen zusätzlichen Mehrwert dieser Entwicklung stellt für den Autor die schnittstellenfreie Einbindung von Pflegeangeboten wie auch die Möglichkeit der Implementierung auf entsprechenden Webseiten Dritter dar. Überschreite die Komplexität der Frage den Chatbot, werde diese an die Pflegeberatung der Pflegekassen oder der Pflegestützpunkte weitergeleitet.

Bündelung beim Pflege Ko-Pilot

Als zweite Innovation, die Hilfen zur Pflege bündeln und einen einfacheren Zugang zu eben jenen gewährleisten soll, zeichnet Behrens „Den Weg vom Beratungsdschungel hin zum Pflege Ko-Piloten“ vor. Die Pflegeberatung, verpflichtende Beratungsbesuche und Pflegekurse für pflegende Angehörige sollten eine Zusammenfassung erfahren, was vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels auch Ressourcen sparen würde. Zudem sei ein einziger Ansprechpartner für die Ratsuchenden wünschenswert, was allerdings multiprofessionelle Talente notwendig mache, deren Verfügbarkeit der Autor in Frage stellt.

Dieser rekurriert auf das Konzept des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, dem das Konzept des Pflege Ko-Piloten zuzuschreiben ist. Ko-Pilot soll Angehörige und Pflegebedürftige von Anfang an regelmäßig beraten und unterstützen und damit „eine Lotsenfunktion für die Pflegehaushalte übernehmen und sie auf Wunsch mit bestehenden regionalen professionellen, aber auch ehrenamtlichen Hilfs-, Bera­tungs- und Angebotsstrukturen vernetzen“, so Westerfellhaus. Als Vorbild könne hier die Hebamme gelten, die sich umfassend um die Familie im prä- sowie im postnatalen Kontext kümmere. Westerfellhaus sehe die Verpflichtung der Bereitstellung des Pflege Ko-Piloten nicht bei den Pflegekassen, da die Beratung unabhängig sein solle. Die Anbindung an die Pflegestützpunkte oder Pflegedienste halte er allerdings für möglich. Der Ansatz werde aktuell bundesweit geprüft.

Den Pflegealltag stabilisieren

Last but not least gelte es, sich um die „Pflege der Pflegenden“ zu kümmern, was „unabdingbar für eine stabile pflegerische Versorgung in Deutschland“ sei. Womit Behrens den dritten Aspekt zur Stärkung der pflegenden Angehörigen ausholt. Um die physische und psychische Verfassung derer zu unter Beachtung der besonderen Herausforderungen im Pflegealltag zu stabilisieren, habe die AOK Nordost in Kooperation mit Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg Angebote entwickelt, die den Familien mit Pflegeverantwortung schnell und unbürokratisch Hilfe und Entlastung in Form einer dreiwöchigen Vorsorgeleistung bieten sollen. Prävention, Vorsorge und Rehabilitation würden damit stärker verknüpft. Die Finanzierung der dreiwöchigen Versorgungsmaßnahme für den Pflegebedürftigen erfolge aus den Budgets der Kurzzeit- und Verhinderungspflege.

Behrens weist hier auf den gesetzlichen Nachbesserungsbedarf hin, „um die Mitaufnahme des Pflegebedürftigen im Rahmen einer Vorsorge- oder Rehabilitationsleistung des pflegenden Angehörigen finanziell auf ein solides Fundament zu stellen“. Ein Anfang sei mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz von der Politik gemacht worden, welcher der Autor das Bewusstsein für die Bedeutung des nicht zu kompensierenden Mehrwertes der Säule pflegender Angehörigen attestiert. Abschließend stellt Behrens die These in den Raum, dass es in der nächsten Dekade zu deutlich wahrnehmbaren ökonomischen und strukturellen Veränderungen zugunsten dieser Personengruppe kommen werde.

Franziska Giffey steht da mit ihrem Vorschlag bereits in den Startlöchern: „Bei uns im Bundesseniorenministerium denken wir über eine Art Lohnersatz­leis­tung nach: ein Familienpflegegeld analog zum Elterngeld, das über einen gewissen Zeit­raum gezahlt wird.“ Dieses würde nach Meinung der Ministerin auch das Pflegesystem entlasten, weil weniger Pflegebedürftige an ambulanter oder stationärer Pflege partizipieren würden. Bundesgesundheitsminis­ter Jens Spahn bewertet diesen Vorstoß im Hinblick auf die Finanzierung kritisch. Die Ausgaben der Pflegeversicherung hätten in den letzten zehn Jahren nahezu eine Verdopplung erfahren. „Pflegegeld wäre eine zu­sätz­liche milliardenschwere Leistung“, so Spahn, der dafür derzeit wenig Spielraum sieht. <<

Ausgabe 03 / 2019