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Akzeptanz von Technik in unterschiedlichen Funktionsbereichen der professionellen Pflege

07.04.2020 16:25
Vor dem Hintergrund der demografisch bedingten steigenden Nachfrage nach Pflegeleistungen bei gleichzeitiger Personalknappheit in den Pflegeberufen wird der vermehrte Einsatz von Technik zur Erbringung von Pflegeleistungen erprobt (Klein et al. 2018), aber auch kritisch diskutiert (Manzeschke et al. 2013; Zegelin/Meyer 2018). Angelehnt an Häußling (2010: 624) beschreibt Technik dabei ein materielles Gebilde und/oder ein planvolles Verfahren, um klar definierte Sachverhalte zu lösen. In mehr oder weniger komplexen Anwendungsfeldern variieren technische Systeme von aufgabenspezifischen, isolierten Geräten bis hin zu alltagsunterstützenden, vernetzten Assistenzlösungen, die vor allem das Alleinleben in der eigenen Häuslichkeit ermöglichen sollen (Fachinger 2017). Allerdings ist wenig darüber bekannt, wie Pflegekräfte die Potenziale und Grenzen von Technik in der Pflege einschätzen. Einige Studien dokumentieren eine hohe selbsteingeschätzte Technikaffinität bei Pflegekräften (BGW 2017), die sich in hoher Nützlichkeitserwartung bspw. von Informations- und Telekommunikationssystemen widerspiegelt (O’Sullivan et al. 2018). Andere Autoren finden geringe technische Kompetenzzuschreibungen und wenig Wissen, beispielsweise um Telematik – mit entsprechend stark ausgeprägten Bedenken gegenüber Schulungsaufwand oder zu starker Abhängigkeit von Technik (Dockweiler et al. 2019). Diese Studien blicken jedoch nur auf ausgewählte Arbeitsbereiche der Pflege, die bei der Frage nach Akzeptanz von Technologien differenziert betrachtet werden sollten (Broadbent et al. 2009). Hierzu zählen die körperliche Unterstützung, soziale und emotionale Hilfestellung, das Monitoring und die Dokumentation.

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>> Ziel der vorliegenden Studie war es, Potenziale und Grenzen von Technik in unterschiedlichen Bereichen professioneller Pflege aus Sicht der Pflegekräfte zu ermitteln und zu diskutieren. Hierzu wurden professionell Pflegende nach ihren Einschätzungen zum Technikeinsatz in unterschiedlichen Anwendungsfeldern ihrer Tätigkeit befragt. Dabei wurde besonders differenziert auf die o.g. Arbeitsbereiche, die Verbindung von Technikaffinität und -akzeptanz, sowie auf Unterschiede zwischen Pflege- und Führungskräften fokussiert.

Fragestellungen und Hypothesen

Ausgehend von der Fragestellung, wie Pflegekräfte den Einsatz von Technik in unterschiedlichen Bereichen ihrer Arbeit wahrnehmen, lassen sich unter Berücksichtigung der aktuellen Literatur konkrete Hypothesen formulieren.
Studien legen nahe, dass Technik in der Pflege dann kritisch gesehen wird, wenn sie soziale und emotionale Aufgaben übernimmt (Savela et al. 2017). Beispiele für solche Pflegetechnologien sind die kuscheltierähnlichen Paro und JustoCat sowie die Roboter Pepper und Kaspar, die als Begleiter und Sozialkontakte agieren und somit zwischenmenschliche Funktionen der Pflege übernehmen (können) (Klein et al. 2018). Entsprechend wird erwartet, dass Technik im Bereich der sozialen und emotionalen Unterstützung geringer akzeptiert und auch in anderen Einstellungsfragen (z.B. zum Nutzen, zum Gefährdungspotenzial oder zur Attraktivität des Arbeitsplatzes) kritischer bewertet wird als Technik in den übrigen drei Pflegebereichen (körperliche Unterstützung, Monitoring und Dokumentation).

Die erste Hypothese (H1) lautet:
Pflegekräfte weisen signifikant geringere Akzeptanz und negativere Einstellungen gegenüber Technik zur sozialen und emotionalen Unterstützung auf als gegenüber Technik in den anderen drei Pflegebereichen.
Studien zeigen weiterhin, dass Personen in Leitungspositionen ihre Einrichtungen anders wahrnehmen als Personen mit rein operativen Aufgaben (De Vos/Meganck 2009; Salaman 1978). Für die Beurteilung von Technik kann dies bedeuten, dass Pflegekräfte eher den Blick auf Technik im direkten Kontakt mit den Pflegebedürftigen richten (körperliche Unterstützung und Monitoring), Führungspersonen hingegen administrative Aspekte fokussieren (Dokumentation). Die Sonderstellung der sozialen und emotionalen Unterstützung bei Pflegekräften mit entsprechend negativer Bewertung (s. H1; Savela et al. 2017) wird bei Führungskräften nicht im selben Ausmaß angenommen.

Die zweite Hypothese (H2) lautet:
Führungskräfte weisen eine vergleichsweise höhere Technikakzeptanz in den Pflegebereichen soziale und emotionale Unterstützung und Dokumentation und eine vergleichsweise niedrigere Technikakzeptanz in den Bereichen körperliche Unterstützung und Monitoring auf als Pflegekräfte ohne Leitungsfunktion.
Letztlich ist die Studienlage nicht eindeutig, wie technikaffin professionelle Pflegekräfte sind. Einige Quellen berichten über ausgeprägte Technikaffinität (BGW 2017; O’Sullivan et al. 2018), andere wiederum über eher geringe (Dockweiler et al. 2019). Explorativ lautet demnach die dritte Fragestellung: Wie technikaffin schätzen sich Pflegekräfte ein?

Methode und Material

Fragebogen
Der mit der Software Unipark umgesetzte Onlinefragebogen umfasste je nach Antwort auf Filterfragen 134 bis 156 Fragen und stand den Teilnehmenden vom 20.08. bis 31.12.2018 zur Verfügung. In Rücksprache mit der behördlichen Datenschutzbeauftragten wurde nach dem informed consent verfahren, d.h. die Interessierten wurden auf der ersten Seite über das Ziel der Studie, Teilnahmebedingungen und Datenschutz, voraussichtliche Bearbeitungsdauer, sowie die Möglichkeit, bei Teilnahme ein Tablet zu gewinnen, informiert. Die Studie wurde in Kooperation mit dem Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) durchgeführt. Bei der Rekrutierung unterstützte der Deutsche Pflegeverband (DPV).

Nach Alter, Geschlecht, Arbeitsort (Krankenhaus, Pflegeheim oder Häuslichkeit) oder beruflicher Position gaben die Befragten ihre Technikaffinität zu elektronischen Geräten (TA-EG) auf den vier Dimensionen Begeisterung, Kompetenz sowie positive und negative Sicht auf Technikfolgen an (Karrer et al. 2009). Anschließend wurden die vier Pflegebereiche körperliche Unterstützung, soziale und emotionale Unterstützung, Monitoring und Dokumentation differenziert abgefragt. Insgesamt 13 Einstellungsfragen und eine standardisierte Akzeptanzskala (Van der Laan et al. 1997) wurden zu jedem Pflegebereich vorgelegt. Der Fragebogen ist auf Anfrage erhältlich.

Stichprobe
Insgesamt nahmen 502 Personen an der Befragung teil. 128 Personen wurden ausgeschlossen, weil sie weniger als 50% des Fragebogens beantworteten. Zusätzliche 16 Personen entfielen, weil ihr Beruf außerhalb der pflegerischen Tätigkeit lag (z.B. Apotheker, Zahnarzt oder Lehrerin). Drei Personen bestanden die üblichen Plausibilitätschecks nicht (z.B. widersprüchliches Antwortverhalten). Nach Ausschluss verblieben N = 355 Personen (M = 40,49 Jahre, SD = 12,71 Jahre; 78% weiblich) für die Analysen. Die meisten arbeiteten im Krankenhaus (62%), Pflegeheim (14%) oder ambulant in der Häuslichkeit (13%). 35% der Befragten hatten eine Leitungsposition inne.

Analysen
Zur Datenbeschreibung wurden Skalenmittelwerte berechnet und mithilfe von zweiseitigen t-Tests mit Bonferroni-Korrektur geprüft, ob die Mittelwerte signifikant vom neutralen Skalenmittel abwichen. Hieraus ergibt sich die Antwort auf die explorative Fragestellung zur Technikaffinität der Pflegekräfte. Zum Test der ersten Hypothese wurden 14 ANOVAs mit Messwiederholung und den vier Pflegebereichen als Gruppen eingesetzt. Für die zweite Hypothese wurden t-Tests mit unabhängigen Stichproben zwischen Personen mit und ohne Leitungsposition berechnet.

Ergebnisse
In Tabelle 1 finden sich Spannweite, Median, Mittelwert, Standardabweichung, Schiefe, Exzess, t-Wert und Reliabilitätskoeffizient für jede der vier TA-EG-Dimensionen und die Akzeptanz in den Pflegebereichen. Die Mittelwerte von drei der vier Dimensionen der Technikaffinität (Karrer et al. 2009) wichen signifikant vom neutralen Skalenmittel in die Richtung hoher Technikaffinität ab (s. Tab. 1).


Hypothese H1
Aufgrund von Varianzheterogenität ergab sich ein strikteres Signifikanzniveau von α = 0,001 und der Greenhouse-Geiser-Wert wurde bei allen ANOVAs interpretiert. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse für die Akzeptanzwerte und die 13 weiteren Einstellungs-Items in den vier Pflegefunktionen. Angegeben sind zudem die Pflegefunktionen, die am stärksten positiv und negativ vom Gesamtmittelwert abwichen s. Tab. 2).
Die Akzeptanz von Technikeinsatz war für den Bereich soziale und emotionale Unterstützung am geringsten und die Einstellungs-Items zeigten auch hier eine kritische Haltung der Befragten – mit Ausnahme des Items „Technische Systeme [im Bereich X] erleichtern das Leben von Menschen mit Pflegebedarf“. Die Ergebnisse stützen daher Hypothese H1 mehrheitlich.


Hypothese H2
Die erwarteten Unterschiede in der Akzeptanz von Technik zwischen Pflege- und Führungskräften fanden sich lediglich im Bereich soziale und emotionale Unterstützung: Führungskräfte akzeptierten diese Technik stärker (t(301) = -3,14; p = 0,002). In den Funktionen körperliche Unterstützung (t(301) = 0,34; p = 0,734), Monitoring (t(301) = 0,33; p = 0,741) und Dokumentation (t(301) = -1,11; p = 0,269) hingegen gab es keine signifikanten Unterschiede. Allerdings waren die Tendenzen, welche Gruppe die verschiedenen technischen Funktionen positiver einschätzte, hypothesenkonform.
Diskussion

Die vorliegende Studie untersuchte Einstellungen von professionellen Pflegekräften zu Potenzialen und Grenzen von Technikeinsatz in unterschiedlichen Bereichen ihrer Arbeit. Dieses Vorgehen berücksichtigte die Komplexität des Berufs Pflege (Savela et al. 2017) und gibt Aufschluss über Haltungen wichtiger Akteure für einen erfolgreichen Einsatz von Technik.
Die Studie unterstreicht die Notwendigkeit, Technikakzeptanz nicht generell, sondern differenziert nach unterschiedlichen Aufgabenbereichen der Pflege zu betrachten. So wird Techniknutzung zur sozialen und emotionalen Unterstützung deutlich kritischer bewertet als ein Technikeinsatz zur Erfüllung von anderen Funktionen wie z.B. das Monitoring (H1). Der Einsatz von Technik zur sozialen und emotionalen Betreuung von Patient*innen oder Bewohner*innen läuft in besonderem Maße Gefahr, mit einem professionellen Selbstverständnis von „guter Pflege“ in Konflikt zu geraten. Diese Befunde lassen sich in bestehende ethische Diskussionen zum Technikeinsatz in der Pflege einordnen. So fragen Manzeschke et al. (2013: 16) z.B. „Wie ist es zu bewerten, wenn durch ein Assistenzsystem das subjektive Sicherheitsgefühl steigt, ohne dass objektiv die Sicherheit erhöht wurde?“ oder „Wie können Konflikte zwischen Sicherheit und Privatheit oder Sicherheit und Selbstbestimmung (Freiheit) gelöst werden?“ Ammicht-Quinn (2019: 16) hingegen wirft die Fragen auf, ob „gesellschaftliche Konsequenzen mitgedacht [werden], etwa die Veränderung zwischenmenschlicher Kom-
munikation durch unterschiedliche Kommunikationstechniken?“ oder „Wie verschieben sich menschliche Beziehungen, wenn die Technik zum Einsatz kommt?“ Alle diese ethischen Aspekte spielen bei Design und Einführung von Technik in der Pflege, ihrer Anwendung sowie ihrer Reflexion eine besondere Rolle – nicht nur bei Technik zur sozialen und emotionalen Unterstützung.

Die Ergebnisse der Befragung zeigen zudem, dass Technik im Bereich körperlicher Unterstützung vor allem dem Personal zugutekommt, indem sie nachvollziehbar hilft und am wenigsten wirtschaftlich motiviert erscheint. Monitoringtechnologien hingegen dienen eher der Produktivität und werden als besonders nützlich, effektiv und effizient wahrgenommen. Dokumentationstechnik ist vollends in das Berufsbild der Pflege integriert und wird nicht in erster Linie als Gefahr für den eigenen Arbeitsplatz oder für die Pflegebedürftigen wahrgenommen. Gleichzeitig wird im berufspolitischen Diskurs häufig eine grundsätzlich zu starke zeitliche Belastung der Pflegekräfte durch zunehmende Dokumentationsanforderungen beklagt (BGW 2017), die besonders dann kritisiert wird, wenn sie vermeintlich oder tatsächlich zu Lasten des Zeitbudgets für die Patient*innen oder Bewohner*innen geht. Hier könnten technisch verbesserte und vereinfachte Verfahren der Dokumentation positive Effekte erzielen.

Berufspolitische Debatten zu Pflege und Technik sollten daher immer zuerst mögliche positive wie negative Implikationen von Technikeinsatz insbesondere auch mit Blick auf die Folgen für die Beziehungsgestaltung zu Patient*innen oder Bewohner*innen thematisieren. Nicht zuletzt bedarf es einer Auseinandersetzung über mögliche Veränderungen des pflegerischen Selbstverständnisses durch immer mehr Technikeinsatz. Zudem erscheint eine kontinuierliche und intensive Schulung und Begleitung der Pflegekräfte im Hinblick auf die Bedienung von technischen Geräten, aber auch im Hinblick auf eine kritische Reflektion des Einsatzes von Technik bei der Pflege und Versorgung von Menschen dringend erforderlich. Nur so können ihre Potenziale ausgeschöpft und drohende Risiken kontrolliert werden. <<

Autoren


Ausgabe 01 / 2020