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Die Corona-Pandemie als Brennglas

12.10.2020 11:17
Gute Arbeit sei gerade in der pandemischen Zeit nur im Rahmen optimaler Arbeitsbedingungen und fairer Gehälter möglich, ist sich der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, sicher. Doch wie dies umsetzen, wenn nicht alle Akteure mitziehen? Zu Tarifverträgen gibt es für Westerfellhaus hier keine Alternative. Ebenfalls alternativlos ist die Finanzierungsreform der Pflegeversicherung, zu der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Kürze seine Vorschläge vorlegen will. „Monitor Pflege“ hat Westerfellhaus zur aktuellen pflegepolitischen Agenda befragt.

>> Herr Westerfellhaus, die Corona-Krise hat der Pflege mehr Aufmerksamkeit verschafft. Im öffentlichen Bewusstsein ist das Berufsbild und seine Problemfelder nun präsenter. Erhöht diese Tatsache auch den Druck auf die Politik, die Rahmenbedingungen in der Pflege zu verbessern und die Branche zukunftsfest zu machen? Oder hat es diesen Push-Faktor gar nicht mehr gebraucht?
Die Pandemie hat wie unter einer Lupe gezeigt, wo die Probleme in der Pflege liegen: zu wenig Personal, wenig verlässliche Freizeit, geringe Anerkennung. Handlungsdruck bestand schon vor Corona, jetzt sind Pflegekräfte in der Akut- und Langzeitpflege aber sehr häufig wegen der Infektionsgefahr für Pflegebedürftige und sich selbst noch stärker belastet. Wir sollten die große gesellschaftliche Wertschätzung für Pflegekräfte jetzt nutzen, um Löhne und Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern.

Was ist von der Politik konkret zu erwarten?
Wichtige Schritte hat die Bundesregierung mit der Konzertierten Aktion Pflege und dem Fachkräfte-Stellenprogramm schon eingeleitet, nun muss es weitergehen mit der Umsetzung einer bundeseinheitlichen Personalbemessung in der Langzeitpflege sowie flächendeckenden Tarifverträgen. Nie war die gesellschaftliche Unterstützung größer als heute, für die Pflege auch mehr Geld auszugeben. Dieses politische Momentum sollte nicht ungenutzt verstreichen, dafür werde ich mich weiter einsetzen.  

Große Unruhe gab es bezüglich des Pflegebonus, der zunächst nur der Altenpflege, und nun – unter gewissen Voraussetzungen – auch dem Pflegepersonal im Krankenhaus zugewiesen wird. Warum war eine einheitliche Lösung für die Pflege politisch nicht gewollt bzw. durchsetzbar?
Politisch gewollt war von Anfang an eine finanzielle Anerkennung für alle Pflegekräfte. Als die Corona-Prämie für die Langzeitpflege beschlossen wurde, gingen aber alle davon aus, dass wir für die Krankenhäuser keine gesonderte gesetzliche Regelung brauchen. Denn über das seit Anfang des Jahres geltende Pflegebudget konnte schon vorher jede tarifvertraglich vereinbarte Bonuszahlung refinanziert werden.
Ich hatte deshalb an alle Krankenhäuser und Kostenträger appelliert, auch den Beschäftigten in der Akutpflege Prämien zu zahlen. In den Kliniken hat sich das in der Praxis dann aber wohl als zu schwierig herausgestellt. Ob das am fehlenden Willen der Beteiligten lag, vermag ich nicht zu beurteilen. Jetzt hat der Gesetzgeber nachgebessert.

Diese Regelung ist ja nun auch ziemlich selektiv ausgefallen.
Leider konnte ich mich mit meiner Forderung, alle Pflegekräfte und außerdem auch andere pflegeferne Beschäftigte, wie Reinigungskräfte oder Transportdienste zu bedenken, bislang nicht durchsetzen. Aus meiner Sicht ist es für das Arbeitsklima in Krankenhäusern nicht sehr zuträglich, wenn die einen eine Prämie bekommen und andere leer ausgehen.
Ich glaube, dass in Corona-Zeiten alle Beschäftigten im Gesundheitswesen einen wichtigen Beitrag leisten, diese Krise zu meistern.

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen stehen im Zuge der Pandemie ebenso vor großen Herausforderungen. Flexibilität bei den ambulanten Pflegeleistungen wurde für die akuten Versorgungsprobleme befristet geschaffen. Mit dem Konzeptpapier zum Entlastungsbudget 2.0 haben Sie einen Vorschlag zur Neujustierung der ambulanten Pflegeleistungen vorgelegt. Was sind Ihre Kernziele?
Mein Kernziel ist die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen. Aktuell passen die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen ihr Leben dem an, was der Leistungskatalog der Pflegeversicherung vorgibt. Ich finde, es muss umgekehrt sein. Die Pflegeversicherung muss so flexibel sein, dass sie sich den individuellen Bedarfen und Lebensentwürfen der Pflegebedürftigen anpassen lässt. Deshalb habe ich mit meinem Team und den Angehörigenverbänden für die ambulante Pflege eine Budgetlösung entwickelt: Zwei Budgets mit jeweils viel Flexibilität. Zusammen mit einer unabhängigen und qualifizierten Beratung können so endlich individuelle und damit passgenaue Pflegearrangements Realität werden – das haben mir übrigens auch viele Pflegebedürftige und Angehörige bestätigt.

Auch die interprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe haben Sie im Zuge der Pandemie in den Vordergrund gerückt. Ist damit eine konkrete strategische und organisatorische Neuausrichtung in der Verantwortung bei der Ausübung von heilkundlichen Tätigkeiten greifbar?

Mittlerweile ist allen klar, dass wir um eine Neustrukturierung der Aufgaben und Prozesse im Gesundheitswesen nicht herum kommen werden, wenn wir eine qualitativ hochwertige und flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechterhalten wollen. Und Pflegefachkräfte sollten hierbei mehr Verantwortung übernehmen können, da sie schon heute dafür ausgebildet sind und durch die neue Pflegeberufeausbildung noch besser vorbereitet werden. Die Fachkommission, die im Zuge der neuen Pflegeausbildung eingerichtet wurde, entwickelt derzeit standardisierte Module, die Pflegefachfrauen und -männer dazu befähigen sollen, zukünftig heilkundliche Tätigkeiten zu übernehmen. Und das Gesundheitsministerium hat bereits einen Strategieprozess zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheits- und Pflegebereich gestartet, der hoffentlich zeitnah erste Ergebnisse liefern wird. Ich denke, dass wir hier auf einem guten Weg sind.

Die zweite Infektionswelle rollt gerade auf uns zu, manch ein Wissenschaftler verortet Deutschland bereits in selbiger. Welche Maßnahmen sollten unbedingt jetzt ergriffen, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit die Fachpflegefachkräfte gut gerüstet sind für die mutmaßlich auf sie zukommenden Aufgaben?
Für die Pflegenden wie für die Pflegebedürftigen muss zunächst einmal klar gesagt werden, worum es hier geht – und das ist nicht, Infektionen um jeden Preis zu verhindern. Einen hundertprozentigen Schutz kann es nicht geben. In der Langzeitpflege muss vielmehr das Ziel sein: so viel Infektionsschutz wie nötig und so viel Selbstbestimmung, Teilhabe und damit Lebensqualität wie möglich.

Und wie erreicht man dieses Ziel?
Dazu braucht es umfassende, abgestimmte Konzepte und viel Augenmaß. Natürlich brauchen wir auch Testungen überall dort, wo es einen Anlass gibt. Unabdingbar sind zudem die Einhaltung der Hygieneregeln für Besucher, Kontaktnachverfolgung, eine Arbeitsorganisation, die Risiken minimiert, und regelmäßige Information der Beschäftigten über den aktuellen Stand der Erkenntnis. Aber wir müssen auch immer wieder überprüfen, was im Zuge der Pandemie an Regeln aufgestellt wurde: Bringt das etwas? Sind der Aufwand und die Einschränkung, die für die Bewohner damit verbunden ist, angemessen? Und alles, was nicht sinnvoll ist, muss weg, damit Pflegekräfte endlich wieder mehr Zeit für die Pflege und Betreuung der Bewohner bekommen.

Es geht um Anerkennung – sowohl in gesellschaftlicher als auch in finanzieller Hinsicht. Lange schon wird ein Flächentarifvertrag für die Altenpflege gefordert und diskutiert. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und die Vereinte Dienstleistungsgesellschaft (ver.di) haben sich am 18.9. auf einen gemeinsamen Rahmen für einen flächendeckenden Tarifvertrag geeinigt. Haben die dort gefassten Beschlüsse die Strahlkraft, die Sie sich für den Berufsstand wünschen?
Zunächst einmal bin ich froh, dass anderthalb Jahre nach Abschluss der KAP der Durchbruch zum Greifen nah zu sein scheint. Hoffentlich haben wir bald die Grundlage für ein Signal an die Pflegekräfte, dass eine gute Bezahlung Pflicht und nicht Kür ist. Eine Ausweitung des Tarifvertrags auf die gesamte Branche wird dazu führen, dass in vielen Regionen die Gehälter steigen. Durch eine Öffnungsklausel bleiben günstigere Regelungen bestehen, zum Beispiel bei Haustarifverträgen, sodass niemand schlechter gestellt wird. Deshalb muss der Tarifvertrag jetzt zügig kommen und vom Arbeitsminister flächendeckend verbindlich erklärt werden. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich von Tarifverträgen neben höheren Stundenlöhnen, Urlaubsgeld und Mindesturlaub auch Regelungen zu familienfreundlichen Arbeitszeitmodellen wünsche.

Die privaten Arbeitgeberverbände haben eine Verfassungsklage angekündigt. Ist eine gemeinsame Lösung tatsächlich so aussichtslos?
Mein Standpunkt ist, dass gute Löhne nur von den Sozialpartnern gemeinsam vereinbart werden können. Einseitig vom Arbeitgeber oder von Trägerverbänden diktierte Lohntabellen sind nicht fair. Ich würde es begrüßen, wenn die privaten Arbeitgeberverbände das endlich einsehen und für eine flächendeckend bessere Bezahlung sorgen würden, anstatt weiterhin auf Pflege-Mindestlöhne zu setzen. Nichts anderes bedeutet ihre Ankündigung. Hätten wir allerorts fair ausgehandelte Tarifverträge, dann bräuchten wir über eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung gar nicht zu reden. Ich finde die Haltung der privaten Arbeitgeber unredlich und in Corona-Zeiten wirklich unerträglich. Wer seine Beschäftigten anständig bezahlen will, kann gegen Tarifverträge ehrlicherweise nichts einzuwenden haben.

Sie betonen immer wieder, dass die Pflege sich selbst besser organisieren und mit einer starken Stimme sprechen muss, um sich selbst in eine stärkere (Verhandlungs-)Position zu bringen. Anfang September haben die Mitglieder der Pflegekammer Niedersach­sen mehrheitlich gegen den Fortbestand der Kammer votiert. Sozialministerin Carola Reimann will die Pflegekammer nun auflösen. Haben die Pflegenden die Zeichen der Zeit nicht erkannt?
Beim Aufbau der Pflegekammer in Niedersachsen ist offenbar von Anfang an vieles schiefgelaufen. Das Ergebnis der Evaluation betrübt mich zutiefst. Man könnte tatsächlich meinen, dass die Berufsgruppe noch immer nicht verstanden hat, dass sie für sich selbst einstehen muss. Und dazu gehört eben auch, dass man wählen geht. Allerdings habe ich auch viele Zuschriften bekommen, in denen Pflegekräfte ihr Unverständnis und Bedauern über das Ergebnis kundtun. Das zeigt, dass sie sehr wohl sehen, wie wichtig eine eigenständige berufliche Selbstverwaltung ist. Ich fände es unverantwortlich von der Landesregierung, die Pflegekammer in Niedersachsen aufzulösen, anstatt nach den Gründen dafür zu forschen. Das wäre ein Rückschritt bei der Weiterentwicklung der Pflege und würde alle Bemühungen konterkarieren, den Beruf voranzubringen und attraktiver zu machen.

Bedarf es hier grundsätzlich größerer Unterstützung durch die Landespolitik?
Absolut! Ich sehe hier sehr stark die Landesregierungen in der Verantwortung. Das Beispiel in Niedersachsen zeigt ja, was passiert, wenn diese Unterstützung fehlt. Wie es besser geht, sieht man in Nordrhein-Westfalen. Dort hat die Landesregierung die Entwicklung der Pflegekammer von Anfang an tatkräftig gefördert und beteiligt sich nun auch finanziell am Aufbau. Das ist für mich das richtige Signal.

Abschließend ein Blick in die Zukunft: Die Bundesregierung rechnet mit steigenden Pflegesätzen in Heimen. Welches Modell zur Finanzierung der Pflege halten Sie für denkbar?

Die Eigenanteile bei vollstationärer Pflege sind in den letzten Jahren rasant gestiegen, ein Ende ist nicht in Sicht. Hauptgründe sind steigende Gehälter sowie die geringen Investitionskostenförderungen der Bundesländer. Wenn nun noch die längst überfällige bundeseinheitliche Personalbemessung umgesetzt wird und mehr Personal in die Einrichtungen kommt, wird es noch teurer.

Ist es also Zeit für einen Systemwechsel?
Fakt ist, so kann es nicht weitergehen. Die Leistungen der Pflegeversicherung müssen zukünftig so ausgestaltet sein, dass Pflegebedürftige nicht überfordert oder zu Sozialhilfeempfängern werden. Ich bin froh, dass der Bundesgesundheitsminister in Kürze seine Vorschläge für eine Finanzierungsreform vorlegen wird. Mir ist wichtig, dass dabei am Ende sowohl gute Löhne und Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, als auch vorhersehbare und zumutbare Zuzahlungen für Pflegebedürftige herauskommen. Wie das erreicht wird, dürfte aus Sicht aller Betroffenen zweitrangig sein.


Herr Westerfellhaus, vielen Dank für das Gespräch. <<

Ausgabe 03 / 2020