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Die Krise als Wendepunkt?

07.04.2020 12:55
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Staatssekretär Andreas Westerfellhaus haben am 19. März mit Pflegeverbänden und -kassen über die Versorgung der Pflegebedürftigen und Entlastung der Heime sowie des Personals beraten und diese vorgestellt. Am 23. März hat das Kabinett schließlich die Entwürfe für Gesetzespakete zur Unterstützung des Gesundheitswesens bei der Bewältigung der Corona-Epidemie beschlossen. Vor diesem Hintergrund haben wir Dr. Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, zu den Maßnahmen befragt. Um die Patientensicherheit zu gewährleisten sei eine angemessene Personalausstattung die Voraussetzung. „Die Mitarbeiter in der Pflege, egal wo, erfahren nicht die Wertschätzung, die ihnen gebührt, verdienen zu wenig Geld und das predigen wir seit vielen, vielen Jahren“, so Hecker.

>> Der Pflege-TÜV wird laut Jens Spahn bis September 2020 ausgesetzt. Halten Sie diese Maßnahme im Rahmen der Corona-Krise für vertretbar?
Bedauerlicherweise ja! Meine 95-jährige Mutter lebt im Pflegeheim und ich kann Ihnen sagen, die Belastung der Pflegekräfte ist im Moment sehr, sehr groß; unfassbar, was sie leisten, um sich und die Bewohner zu schützen – zur Zeit tun sie das immer noch mit unzureichender Schutzkleidung! Mehr Gespräche mit den Angehörigen, um diese zu beruhigen. Mehr Einzelleistungen durch die Pflegekräfte bei den Bewohnern, weil keine Angehörigen mehr entlasten können. Die Pflegenden müssen sich ja was gegen die Einsamkeit der Bewohner einfallen lassen. Die Bewohner, die noch intellektuell in der Lage sind, die Situation zu erfassen, müssen einerseits beruhigt und andererseits psychisch gestärkt werden. Im Moment herrscht Ausnahmezustand!

Auch der Personalschlüssel wird befristet ausgesetzt. Ist das für die Zeit der Krise ein angemessenes Instrument?
Natürlich gefällt uns das auch nicht. Wir haben seit vielen Jahren einen Mangel an Pflegepersonal. Da wir aber nicht wissen, wie viele Patienten in den nächsten Wochen in die Krankenhäuser strömen, was soll die Politik machen? Diese nach Hause schicken, weil kein Pflegepersonal da ist oder an den Untergrenzen festgehalten wird? Das ist ja auch keine Lösung. Die Mitarbeiter in der Pflege, egal wo, erfahren nicht die Wertschätzung, die ihnen gebührt, verdienen zu wenig Geld und das predigen wir seit vielen, vielen Jahren. Es wurde Jahrzehnte ignoriert, wir wissen alle warum. Ich hoffe nur, dass wir nach der Krise wieder in ein geordnetes System zurückfinden werden.

Werden die Pflegebedürftigen im Schutzmaßnahmen-Katalog insgesamt ausreichend berücksichtigt? Was ist Ihnen im Sinne der Patientensicherheit zu kurz gekommen?
Sorry, dazu kann ich nicht viel sagen. Patientensicherheit kommt im Moment an allen Ecken und Enden zu kurz. Ich habe ein wenig Hoffnung, dass die Beteiligten zumindest jetzt endlich die Hygiene verstehen und die Maßnahmen einhalten, die seit Jahren „normal“ sein sollten. Die Aktion „Saubere Hände“ ist seit vielen Jahren anerkannt. Es ist doch logisch, dass in der nächsten Zeit aufgrund von Fehlern mehr Menschen versterben, weil sie in dieser Krise nicht schnell genug und adäquat genug versorgt werden können, Fehler passieren! Ob in der ambulanten Versorgung, im Pflegeheim oder im Krankenhaus – das Pflegepersonal war sehr sehr knapp berechnet, schon vor der Krise. Das kann nicht funktionieren. Ohne Personal keine Patientensicherheit.
Ich hoffe inständig, dass wir besser aus der Krise herauskommen als unsere Nachbarländer. Und ich hoffe inständig, dass danach nicht gesagt wird, wir waren doch sehr gut aufgestellt! Ich hoffe inständig, dass daraus nicht abgeleitet wird, dass wir weiterhin die Sorgen und Nöte, Bedürfnisse der Mitarbeiter in der Pflege ignorieren.

In einem Altenheim in Würzburg sind Mitte März 9 Patienten an Covid-19 verstorben. 23 Pfleger (Stand: 23.03.2020) haben sich mit dem Virus infiziert. Muss man die Einrichtungen in der pandemischen Zeit noch besser schützen?
Auf jeden Fall! Schutzausrüstungen sofort und Prüfung, wer mit welchen Krankheitssymptomen zur Arbeit kommt. Keine Kompromisse! Strenge Kontrolle der Heimleitung. Keiner darf dort arbeiten, der sich krank oder auch nur unwohl fühlt. Keine Besucher! Erkrankungen im Pflegeheim ergeben einen sehr unglücklichen Verschiebebahnhof in die Krankenhäuser! Ich sehe hier nicht, dass das alle Verantwortlichen verstanden haben. Wenn Mitarbeiter erkranken, haben die anderen wieder mehr zu tun. Ein sehr kritischer Kreislauf, den man sehr ernst nehmen muss!

Wie schätzen Sie das Risiko in der ambulanten Pflege für die Patienten ein? Welche Schutzmaßnahmen sind unerlässlich?
Hier darf es keinen Unterschied zu den Maßnahmen in den Krankenhäusern oder den Pflegeeinrichtungen geben. Da wir nicht wissen, wer Virusträger ist und wer nicht, muss man davon ausgehen, dass jeder ein möglicher Virusträger ist. Deshalb gibt es ja auch ein öffentliches Kontaktverbot. In der Pflege hat man Kontakt, also braucht man eine Schutzausrüstung!
Ich möchte noch etwas zur Erweiterung der Intensivbetten ergänzen: Wo sollen die Pflegekräfte dazu herkommen? Eine Fachausbildung zur Intensivschwester in 24 Stunden, das geht nicht.


Frau Dr. Hecker, vielen Dank für das Gespräch. <<

Ausgabe 01 / 2020