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„Ideologie schlägt Humanität“?

07.04.2021 07:57
„Scheinheilig statt heilig“, kommentierte die Dienstleistungsgewerkschaft ver:di die Absage der Arbeitsrechtlichen Kommission (ARK) des Caritasverbands Deutschland an die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages für die Altenpflege Ende Februar. Von allen Seite hagelte es Kritik, doch der Verband vertritt seine Position selbstbewusst und nachhaltig. Die Zustimmung beider kirchlichen Sozialverbände, Caritas und Diakonie, ist laut Arbeitnehmer-Entsendegesetz die Voraussetzung für das Verfahren. Die Diakonie bezog nach dem Veto der ARK keine Stellung mehr zum Thema und setzte den Beschluss aus.

>> „Wir zahlen seit Jahren bereits die höchsten Löhne in der Altenhilfe und seit 2009 kümmern wir uns in der Pflegekommission darum, dass alle Beschäftigten in der Altenpflege höhere Löhne bekommen“, erklärt Norbert Altmann, Vorsitzender des Ausschusses, Dienstgeberseite Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas. Nicht umsonst liege der Mindestlohn einer ungelernten Pflegehilfskraft ab September bei 12 Euro. „Nur zum Vergleich: Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn auch für gelernte Kräfte liegt dann bei 9,60 Euro. Wir haben zudem dafür gesorgt, dass es einen Mindestlohn für einjährig ausgebildete Pflegehelfer und für Pflegefachkräfte gibt. Von Verhinderung kann also keine Rede sein“, so Altmann weiter.

Sylvia Bühler, ver.di-Bundesvorstandsmitglied, bewertet das Votum der Caritas indes ganz anders: „Die Caritas handelt mit dieser Entscheidung in krassem Widerspruch zu ihren eigenen sonstigen Aussagen und Werten, wenn es um gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Bedeutung sozialer Dienste geht. Das ist mehr als scheinheilig. Die Arbeitgeberseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission kommt ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, für bundesweit bessere Arbeitsbedingungen in der Altenpflege zu sorgen, nicht nach.“ Das sei ein schlimmes Signal für die Beschäftigten in der Altenpflege, so sagte Bühler. Die Ideologen unter den kirchlichen Arbeitgebern würden auftrumpfen, Verlierer seien aber die rund 1,2 Millionen Beschäftigten in der Altenpflege. „Ideologie schlägt Humanität, das ist ein trauriger Tag für die Altenpflege. Die Beschäftigten leisten gerade auch in der Corona-Krise Außerordentliches. Jetzt müssen sie konstatieren: Nach dem Klatschen kommt die Klatsche.“

„Große Chance vertan“

Auch der deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisiert die Entscheidung. „Damit ist heute die große Chance vertan worden, die Arbeit in der Pflege nachhaltig aufzuwerten“, erklärt DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie, in denen Pflegekräfte unter extremsten Bedingungen nicht zuletzt ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familien riskieren, sei das ein schlechtes Signal für all diejenigen, die man im Beruf halten will und künftig für diesen Beruf begeistern möchte, sagte Piel.

Caritas-Präsident Peter Neher nahm zu den Vorwürfen im Rahmen eines auf der Website des Caritasverbandes veröffentlichten Interviews Stellung zu der Entscheidung der ARK. „Hintergrund ist die Befürchtung einer größeren Zahl von Mitgliedern der Arbeitsrechtlichen Kommission, dass bei einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Tarifvertrags Pflege die Arbeitsbedingungen nicht besser für Pflegende werden, sondern schlechter.“ Die allermeisten Pflegekräfte verdienten bei der Caritas um einiges mehr, als der Tarifvertrag festgelegt hätte. „Unsere Einrichtungen und Träger befürchten, dass die Kostenträger sich künftig am Tarifvertrag Altenpflege als Norm orientieren und die Mehrkosten der Einrichtungen nicht mehr refinanzieren, die höhere Entgelte zahlen. Wir wollen aber weiterhin gute Löhne zahlen“, erläuterte Neher weiter.

Ein zweischneidiges Schwert

Eine Befürchtung, die Christine Vogler, Vize-Präsidentin des Deutschen Pflegerats e.V. (DPR) indes nicht ganz von der Hand weisen kann. Das Scheitern des Vorhabens, den von ver.di und der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) abgeschlossenen Tarifvertrag Altenpflege als allgemeinverbindlich erklären zu lassen, sei bedauerlich und zugleich zwiespältig. „Einerseits ist es ein wichtiges Anliegen der Konzertierten Aktion Pflege, die Gehälter der Profession Pflege zu verbessern. Zumindest für Pflegefachpersonen in prekären Arbeitsverhältnissen wäre dies eine Verbesserung gewesen. Andererseits kann zum derzeitigen Stand nicht garantiert werden, dass derzeit bessere Gehälter nicht doch auf die im Tarifvertrag Altenpflege ausgehandelten Mindestlöhne angepasst worden wären.“ Das sei ganz bestimmt nicht das, was der Deutsche Pflegerat und die Profession Pflege wollten. Ob Mindestlöhne und Mindestarbeitsbedingungen, wie sie der Tarifvertrag Altenpflege vorgesehen habe, angemessen seien, müsse diskutiert werden. „Ziel muss ein Einstiegsgehalt für Pflegefachpersonen in Höhe von 4.000 Euro sein. Davon war das Vertragswerk weit entfernt“, kritisierte Vogler.

Sie forderte schnellstmöglich eine Pflegereform, die zum einen die vollständige Refinanzierung höherer Gehälter gesamtgesellschaftlich akzeptabel absichere und dabei die finanzielle Belastung der Menschen mit Pflegebedarf vermeide. „Und zum anderen die Auszahlung der Leistungen der Pflegeversicherung daran koppelt, ob Pflegeheime und Pflegedienste ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tarifgerecht bezahlen. Jetzt muss noch vor der Bundestagswahl gehandelt werden.“

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zeigte sich enttäuscht von der Entscheidung der Caritas. Er beabsichtige nun, die Pflegemindestlohnkommission einzuberufen. <<

Ausgabe 01 / 2021