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Wann, wenn nicht jetzt?!

07.04.2021 08:08
Dr. Ilona Köster-Steinebach, Geschäftsführerin des Aktionsbündnis Patientensicherheit, zu Pflegepersonalausstattung, Patientensicherheit und die Notwendigkeit des Umdenkens in der Gesundheitspolitik.

>> Eine Rückschau: Im Jahr 2018 wurde das Pflegepersonalstärkungsgesetz (PpSG) verabschiedet. Die Dokumentation dieses Gesetzgebungsprozesses findet sich noch immer auf der Internetseite des BMG, darunter auch ein Zitat des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn: „Wir halten Wort. Mit der Verabschiedung des Pflege-Sofortprogramms heute im Deutschen Bundestag lösen wir das Versprechen an alle Pflegekräfte in Deutschland ein, ihren Berufsalltag konkret zu verbessern. Ab dem 01.01.2019 können Krankenhäuser und stationäre Pflegeeinrichtungen neues Pflegepersonal einstellen. Denn wir stellen sicher, dass die Krankenkassen 13.000 Pflegestellen in der Altenpflege und jede zusätzliche Pflegestelle im Krankenhaus finanzieren.“

Die Äußerungen von damals, gerade einmal drei Jahre her, wirken heute, angesichts von COVID-19, wie aus der Zeit gefallen. Mittlerweile haben zwei Wellen der Corona-Pandemie das Land, ja die Welt überzogen und wir stecken mitten in einer dritten Welle, mühsam hinsichtlich der Fallzahlen, der Morbidität und Mortalität von den schleppend anlaufenden Impfungen in Schach gehalten.

Die Pandemie hat uns vieles gelehrt. Sie hat den Schleier, der über vielen Problemlagen im Gesundheitswesen lag, gelüftet. Eine Erkenntnis steht dabei ganz vorne: Ohne ausreichendes, motiviertes und geschütztes Pflegepersonal geht keine Gesundheitsversorgung! Alle Bemühungen, angesichts der Pandemie Intensivbetten aus dem Boden zu stampfen, wurden von den Insidern kopfschüttelnd bestaunt. Natürlich ist es möglich, binnen kürzester Zeit Flächen anzumieten und Betten aufzustellen. In einem Mutterland der Medizintechnikindustrie sind sogar Beatmungsgeräte unter dem Strich relativ rasch zu beschaffen. Aber Menschen kann man nicht klonen und Pflege, insbesondere Intensivpflege unter den besonderen Rahmenbedingungen der verschärften Infektionsprävention, kann eben nicht Jede/r! Und bei weitem nicht Jede/r ist bereit, sich persönlich dem Risiko der pflegerischen Betreuung hochansteckender Patient*innen auszusetzen. Eigentlich sollte jetzt endgültig klar sein: Der größte Schatz, über den unser Land, unsere Gesellschaft verfügt, sind die Menschen, die tagtäglich die pflegerische und medizinische Betreuung gewährleisten.

Strukturelle Mängel – vor und während der Pandemie

Der Umgang mit Schätzen ist allerdings ganz unterschiedlich. Da gibt es die hochgeschätzten Objekte, die teuer gehandelt, gehegt und gepflegt werden. Andere, z.B. Bodenschätze, werden ausgebeutet. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass der Umgang mit Pflegekräften eher nicht in die erstere Kategorie fällt. Einmalzahlungen, wenn sie denn ankommen, sind keine dauerhafte Aufwertung des Berufs. Gerade ist der neue Tarifvertrag für die Pflege am Widerstand einiger Arbeitgeber gescheitert. Und auch die aktuelle Impfpriorisierung wirft Fragen auf. Was aber am schwersten wiegt, sind die Arbeitsbedingungen.

Schon vor der Pandemie war die Situation, das belegen (ältere) internationale Vergleichsdaten und viele, viele Praxisberichte, sehr ernst. Daran haben auch die Maßnahmen des PpSG und die Pflegepersonaluntergrenzen (PPUG), die sich an der Mangelsituation orientierten, nichts geändert. Die PPUG sind darauf ausgerichtet, auf einigen Stationen eine Mindest-Personalausstattung zu gewährleisten, unterhalb derer man von akuter und unmittelbarer Patientengefährdung ausgehen muss. Sie sind bestenfalls die letzte, rote Linie, die im Interesse der Patient*innen, aber auch der Mitarbeitenden, auf keinen Fall unterschritten werden darf.

Dass es im Zuge der Pandemiegesetzgebung nicht nur zur Aussetzung der Qualitätssicherung, sondern auch zur Aufhebung der PPUG kam, spricht Bände darüber, dass die Gesetzgebung 2018 mitnichten zu einem so schnellen und substanziellen Personalaufbau geführt hat, wie die Verlautbarungen der Regierung nahegelegt hatten. Es spricht vor allem auch Bände darüber, was sich gerade in der täglichen Wirklichkeit vieler Pflegekräfte und der von ihnen betreuten Patient*innen zwangsläufig abspielen muss.

Zur Beruhigung der Öffentlichkeit in einer absoluten Ausnahmesituation mag verlockend sein, die Botschaft zu senden, dass alles im Griff ist. Es ist auch leicht, aus der Entfernung und auf der Basis des Selbstlobs großer Akteure im Gesundheitswesen zu übersehen, was bei Personalmangel und persönlicher Überlastung unvermeidlich ist, dass nämlich längst nicht nur beim Impfstoff, sondern auch in der Versorgung „priorisiert“ wird. Der Vorteil für die Politik ist, dass diese „Priorisierung“ leise passiert: die Pflegekraft, die eben nur bei einem Patienten sein kann, während nebenan eine andere Patientin allein verstirbt, nicht umgelagert wird, keine Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme bekommt, es kein Entlassmanagement mehr gibt. Einzelschicksale eben.

Pflegekatastrophen sind still

Dass die Politik bezüglich der pflegerischen Versorgung in den Krankenhäusern den Anschein aufrechterhalten kann, liegt an Entscheidungen, die rund um die Verabschiedung des PpSG (und auch schon davor!) bewusst gefällt wurden. Damals wurde in § 137j SGB V mit dem Pflegepersonalquotienten eine Form des Nachweises der Pflegepersonalausstattung gewählt, die keine Relation zum tatsächlichen Pflegebedarf der versorgten Patient*innen beinhaltet. Das Ergebnis der Erfassung bis heute ist mitnichten eine Übersicht, wo welche Pflegepersonalausstattung vorhanden ist bzw. fehlt, sondern ein Katalog zur Risikoadjustierung von DRGs.

Folglich gibt es keine Kennzahlen und erst recht keine Ampel, die das Ausmaß der Überlastung der Pflegenden und der Unterversorgung der Patient*innen anzeigt – was wir jetzt in der Krise unmittelbar spüren: Die Pflegekatastrophe bleibt still. Sie spielt sich ab in vielen vermeidbaren Patientenschädigungen und in um sich greifenden Traumatisierungen des medizinischen Personals, allen voran die Pflegekräfte, vor Ort. Zahlen dazu werden aber weder erhoben noch berichtet, so dass die Situation ignoriert werden kann, trotz der Warnungen, die es durchaus gibt.

Wir alle müssen derzeit mit der Realität der Pandemie leben. Die Frage ist aber, was passiert, wenn diese (hoffentlich) irgendwann abklingt. Klopft man sich öffentlichkeitswirksam auf die Schulter und geht zum Alltag über? Bleibt es beim Blindflug in Bezug auf die Deckung des Pflegebedarfs der Patient*innen und die Überlastung des Personals? Und was passiert dann mit der Gesundheitsversorgung? Was ist mit den Menschen, die bereit waren und noch sind, zur Bewältigung der Krise eigene Gefährdungen und Belastungen hintan zu stellen und ihr Bestes zu geben? Wer von uns kennt das nicht: In der Ausnahmesituation wächst man über sich hinaus, aber wenn die Ausnahmesituation zum unabsehbaren Alltag wird?

Real- statt Symbolpolitik gefordert

In der Rückschau ist klar, dass das PpSG nicht die Trendwende in der Pflege gebracht hat. Umso wichtiger ist es, jetzt so schnell wie möglich die Weichen in eine Zukunft zu stellen, in der nicht nur eine deutliche finanzielle Aufwertung des Pflegeberufs erfolgt, sondern auch ehrlich auf die Arbeitssituation geschaut wird. Wir brauchen ein Instrumentarium, um aktuell und zutreffend Transparenz darüber herzustellen, ob der Pflegebedarf auf den Stationen tatsächlich gedeckt ist bzw. in welchem Umfang das nicht der Fall ist.

Die Zeit für Schönfärberei mittels komplizierter Berechnungen ohne Konsequenzen ist vorbei, wenn man Vertrauen in die Änderung der Zustände vor Ort herbeiführen will. Eine glaubwürdige Perspektive ist tatsächlich alternativlos, will man nicht das erschöpfte und desillusionierte Pflegepersonal verlieren und nach der Krise unabsehbare Versorgungslücken und Patientengefährdungen in Kauf nehmen. Wann wenn nicht jetzt ist der Zeitpunkt für echte Reformen im Gesundheitswesen? Wenn uns die Pandemie eines gezeigt hat, dann, dass Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit, die in Zeiten des Überflusses irgendwie toleriert werden, sich nicht nur bitter, sondern auch finanziell sehr teuer rächen.

Echte Reformoptionen für die Gesundheitspolitik – nicht Kostendämpfung!

Schon mehren sich die Stimmen, die warnen, dass die exorbitanten Ausgaben der Pandemie die nächsten Kostendämpfungsgesetze zwingend erforderlich machen werden. Das beunruhigt, denn Kostendämpfung kann allzu leicht auf Kosten derjenigen gehen, die sich im System am wenigsten wehren können: Patient*innen und Pflegekräfte. Simples Sparen wird leicht zur Milchmädchenrechnung, denn gespart wird oft an vermeintlich Überflüssigem: den Ressourcen für die Vorbereitung auf Krisenfälle, der Lagerhaltung, der Qualität und Patientensicherheit und natürlich am Personal.

Sowohl mit Blick auf die Patientensicherheit als auch auf die Resilienz des Gesundheitswesens ist derartiges Sparen fatal: Jeder Patient und jede Patientin, die durch vermeidbare Vorkommnisse im Zuge der Gesundheitsversorgung geschädigt wird, bindet Personal und kostet Geld – vom Leid der Betroffenen ganz abgesehen. Jede Person, die mit sekundärer Traumatisierung als „second victim“ abgestumpft mehr Patientengefährdungen zulässt, verschärft die Probleme. Ohne Vorbereitung wird auch die nächste Pandemie wieder zur volkswirtschaftlichen wie medizinischen Katastrophe. Und wenn das Pflegepersonal erst einmal tatsächlich oder innerlich dem Beruf den Rücken gekehrt hat, ist die gewohnte Gesundheitsversorgung nicht aufrecht zu erhalten.

Zusammengefasst ist Corona der ultimative Weckruf, um in die Funktionsfähigkeit und Widerstandskraft des Gesundheitswesens zu investieren und seine konsequente Modernisierung zu betreiben. Zu den zentralen Prinzipien gehört, dass überkommene Besitzstände auf den Prüfstand gestellt werden müssen und dass Probleme nicht vom Weg-, sondern vom Hinschauen gelöst werden.

Das gilt auch für die Pflegepersonalausstattung: Es muss endlich ein Transparenzinstrumentarium her, das möglichst nah an der Echtzeit Aufschluss über die Relation von Pflegezeit und Pflegebedarf gibt und auf dessen Grundlage echte Versorgungssteuerung passieren kann. Patientensicherheit muss zur Maxime des Handelns werden, denn jede verhinderte Patientenschädigung entlastet in jeder Hinsicht. Das Empowerment der Patient*innen, für ihre eigene Gesundheit Sorge zu tragen, darf nicht als Kostendämpfungsbereich, sondern muss als reale Chance verstanden werden, Menschen zu befähigen, sich selbst widerstandsfähig in der Krise erweisen zu können.

Es sind die vermeintlich weichen Faktoren, bessere Aufklärung, bessere Entlassungsvorbereitung, bessere Unterstützung im Versorgungsprozess, bessere Kommunikation, die letztlich das Potenzial haben, Kosten zu senken und gleichzeitig das Versorgungsergebnis für die Menschen zu verbessern. Auch die viel beschworene Digitalisierung darf nicht als Spielfeld von IT-Experten, Datenschützern, Kostendämpfern und windigen Profiteuren verkommen, sondern muss konsequent unter das Ziel der Optimierung der Versorgungsprozesse aus dem Blick der Nutzer*innen – Patient*innen wie Leistungserbringende aus allen Berufsgruppen – gestellt werden. Das erfordert harte Detailarbeit auf allen Ebenen und bringt wenig unmittelbaren Glanz für den oder die zukünftige Bundesgesundheitsminister*in.

Aber wann, wenn nicht jetzt, ist die Chance gegeben, echte Veränderungen statt nur Kosmetik zu betreiben. Gerade haben wir erfahren, wie teuer, gemessen an Menschenleben, psychischen Belastungen und verlorener Wirtschaftsleistung, eine verschleppte Reform und mangelnde Resilienz des Gesundheitswesens sind. Dieser Anstoß darf nicht verloren gehen, sondern muss in echte Veränderungen umgemünzt werden! <<

Ausgabe 01 / 2021