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AOK Nordost Forum: Wie kommen wir vom Löcher stopfen zu einer nachhaltigen Pflegefinanzierung?

27.02.2024 17:10
Wie steht es um die Finanzierung und Qualität in der Pflege? Und was ist jetzt dringend zu tun? Diese Fragen diskutierten Expertinnen und Experten beim „AOK-Forum live“ am 26. Februar 2024 in Schwerin.

Fünf von sechs Frauen und zwei von drei Männern werden in ihrem Leben pflegebedürftig. Und für viele von ihnen stellt sich jetzt schon die Frage: Wie viel Pflegeunterstützung kann ich mir leisten und welche Qualität steht dahinter? Steigende Eigenanteile in der stationären Pflege, höhere Preise in der mobilen Pflege und über allem steht ein System, das seit Jahren reformbedürftig ist. Die Rufe nach tragfähigen Lösungen werden immer lauter. Doch bisher waren verschiedene Ideen schlicht nicht konsensfähig oder gar nicht erst über eine politische Legislaturperiode hinausgedacht, stellt die AOK Nordost in einem Bericht zum „AOK-Forum live“ fest.

Die Probleme werden dringlicher, immer weiter nur die Löcher zu stopfen, die sich auftun, wird keinen nachhaltigen Effekt haben – darin waren sich alle Podiumsgäste bei der Veranstaltung "Wie kommen wir vom Löcher stopfen zu einer nachhaltigen Pflegefinanzierung?"  beim AOK Nordost Forum (aok-nordost-forum.de) in Schwerin einig. Thomas Kalwitzki, Diplom-Gerontologe von der Universität Bremen, verglich die bisherige Pflegefinanzierung mit dem Bild eines verkorksten Hausbaus: Immer wenn das Geld zu Ende war, wurden die Fenster vergrößert oder noch etwas angebaut. „Wir haben viele Balkone, aber das Ganze trägt sich nicht mehr von alleine“, sagte Kalwitzki, der sich selbst als „Sidekick von Professor Heinz Rothgang“ vorstellte, quasi dem Vordenker des Sockel-Spitze-Tauschs. Kalwitziki ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am Socium Forschungszentrum der Universität Bremen.

Spektrum reicht von Bürgerversicherung bis zur Abschaffung des Bürgergeldes

Die Statik der Pflegefinanzierung müsse nachhaltig stabilisiert werden, so Kalwitzki. Ein Blick auf die Ausgabenseite zeige, dass für die heute etwa fünf Millionen Pflegebedürftigen rund 60 Milliarden Euro ausgegeben werden. Im Jahr 2055 werden es laut Hochrechnungen 80 bis 90 Milliarden Euro sein, bei zirka sieben bis acht Millionen Pflegebedürftigen. Steigende Beitragssätze werden sich kaum mehr verhindern lassen, ist sich Kalwitzki sicher: „Wetten, dass wir mit dem aktuellen Beitragssatz nicht über diese Legislatur kommen? Dann landen wir sehenden Auges in der Situation, in der die Leute stärker belastet sind, deren Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen.“ Berechnungen zeigen tatsächlich: Wird jetzt nicht gegengesteuert, könnte der Beitragssatz zur Pflegeversicherung im Jahr 2050 je nach Quelle zwischen sechs und sieben Prozent liegen.

Der Beitragssatz kann folglich nicht die einzige Säule sein, um die Statik wiederherzustellen. Das Spektrum der Ideen auf dem Podium war breit: Es reichte von der Bürgerversicherung – sie hätte laut Kalwitzki „zügig, dauerhaft belastbare Kalkulationen“ zur Folge – über den Solidarausgleich zwischen Sozialer und Privater Pflegeversicherung mit einem Potenzial von knapp sechs Milliarden Euro, zuverlässige Steuerzuschüsse bis hin zu „zumutbarer privater Vorsorge in kalkulierbarem Umgang“.

Zu den Lösungen gehört für AOK Nordost-Vorständin Daniela Teichert auch das Heraufsetzen der Beitragsbemessungsgrenze. Dies brächte mehr als drei Milliarden Euro ins das System und hätte zur Folge, dass nicht immer nur die Menschen mit unteren und mittleren Einkommen wie zuletzt beim Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) überproportional belastet werden. Unter dem Strich brauche es Finanzierungsmöglichkeiten, die aus unterschiedlichen Töpfen kommt. Und eine politisch konsensfähige Lösung, die längerfristiger gedacht sei als bis zur nächsten Wahl.

Simone Borchardt, Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied im Gesundheitsausschuss, plädierte dafür, mehr Geld in die Kommunen für die Prävention zu geben und vor allen Dingen die Tagespflege zu stärken. „Wenn wir da jetzt mehr Geld reingeben, sparen wir in der stationären Pflege“, so Borchardt, die selbst auch ein Pflegeheim betreibt. Aber auch die Stärkung von Familien und die Abschaffung des Bürgergeldes sieht die CDU-Politikerin als Teil der Lösung.

Qualitätsatlas Pflege sorgt für Transparenz und wirft Fragen auf

Im zweiten Teil stand das Thema Qualität im Fokus. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat erstmals andere Qualitätskriterien an der Schnittstelle zwischen pflegerischer und medizinischer Versorgung. Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege am WIdO, stellte in ihrem Impulsvortrag den Qualitätsatlas Pflege vor. Zehn Indikatoren, die messbar, relevant und beeinflussbar sind, ermöglichen den Akteurinnen und Akteuren vor Ort, Qualitätsdefizite zu erkennen und zu verbessern.

Dass eine professionsübergreifende Zusammenarbeit dringend notwendig ist und die Qualität stärkt, unterstrich auch Monique Salchow-Gille, Internistin in Friedland und Ärztin im Senioren-Wohnpark Friedland und in der Pflegeeinrichtung Hanna Simeon in Boock. Sie berichtete, wie Telemedizin helfen kann, lange Wege im ländlichen Bereich zu überbrücken. In dem Pflegeheim in Boock gab es keine hausärztliche Versorgung mehr. Salchow-Gille übernahm trotz 80 Kilometer Entfernung die Versorgung mit dem Anspruch „trotzdem täglich die Qualität aufrechterhalten“ zu können. Es gelang ihr mit einem Telemedizin-Projekt, das sie gemeinsam mit der AOK Nordost erprobte und die Gesundheitskasse und die Barmer inzwischen als Selektivvertrag Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegeeinrichtungen anbieten.

Über zertifizierte medizintechnische Geräte sind ihr per App und Tablet zusätzlich zur „face-to-face-Medizin“ nun Untersuchungen online und on-demand möglich. „Ich bin dadurch auch da niederschwellig für die Pflegekräfte erreichbar, wo ich sonst nur mit mehrwöchigem Abstand persönlich vor Ort wäre.“ Hautausschläge, Bronchitis, Infektionen könne sie beispielsweise per Telemedizin feststellen. Das gebe auch den Pflegenden Sicherheit in der Beurteilung der Symptome. „Die Daten sind sehr verlässlich. Es kann sofort eine Therapie eingeleitet werden und dadurch Krankenhaus-Einweisungen verhindert werden. Und die Bewohner freuen sich, dass sie möglichst lange in ihrem Umfeld bleiben können und nicht in die Klinik müssen.“ Im nächsten Schritt soll dies auch in die ambulante Pflege übertragen werden.

Aber auch ein digitaler Einsatz kostet Geld. Und auch dafür müssen teilweise erst noch die Bedingungen geschaffen werden, wie zum Beispiel virtuelle Assistenten im Vergleich zu menschlichem Personal vergütet werden können.